5 Fragen an Bertus Mulder zu dem Architekten Gerrit Rietveld
Bertus Mulder lernte Gerrit Rietveld 1958 kennen und arbeitete mit ihm als Architekt zusammen. Bis heute ist er ein großer Bewunderer seiner Arbeiten und wurde mit der Renovierung des Rietveld-Schröder-Hauses in Utrecht beauftragt, das heute zum UNESCO Weltkulturerbe zählt.
Wir sprachen mit Bertus Mulder über den Mensch Gerrit Rietveld und dessen Visionen.
Herr Mulder, Sie kannten Gerrit Rietveld persönlich und haben mit ihm zusammengearbeitet – wie würden Sie ihn privat als Menschen charakterisieren und wie verlief die Zusammenarbeit?
Rietveld war ein sehr liebenswürdiger Mensch, freundlich und positiv. Er ging Streit und Meinungsverschiedenheiten aus dem Weg, auch weil ihm dafür seine Zeit zu kostbar war. Er war nicht daran interessiert, was andere taten und las daher auch keine Zeitschriften und Bücher. Er wusste genau, was er wollte. Er lebte, um Dinge herzustellen, die es noch nicht gab. Das bedeutete für ihn Lebensfreude. Er nannte es nicht Arbeit, sondern Schaffen. Ich habe ihn einmal gefragt, was das Beste war, das er getan hat, und seine Antwort war: „Das Nächste“. Rietveld unterschied zwischen Baukunde und Baukunst. Er realisierte eine Baukunst mit Licht und Raum, die er erfahrbar machte durch das Setzen von Begrenzungen, welche sich dann zu Möbeln und Gebäuden formten.
Was war in Ihren Augen der wichtigste Beitrag von Gerrit Rietveld?
Der Wichtigste, was Gerrit Rietveld zur Möbelkunst und Architektur beigetragen hat, war, dass er Möbel zu räumlichen Objekten und Architektur zu Raumkunst machte. Scheitern kann man nur, wenn man sich vornimmt etwas zu erreichen, das dann nicht funktioniert. Das war bei Rietveld nicht der Fall.
Er wurde von seinem Vater als Tischler ausgebildet, der ihn dafür mit elfeinhalb Jahren von der Schule nahm. Danach zweifelte er, ob er wirklich als Tischler durchs Leben gehen sollte. Daher arbeitete er eine Weile als Goldschmied und später in einer Druckerei. Er hat auch gemalt, war Mitglied von der Künstlervereinigung „Kunstliefde“ (Kunstleben) und beteiligte sich an zwei Ausstellungen. 1911 heiratete er und eröffnete 1917 eine eigene Tischlerei. Dort arbeitete er zunächt an Aufträgen für das Utrechter Bürgertum und dann an experimentellen Entwürfen, die durch den Architekten Robert van ‚t Hoff als Stilmöbel bekannt wurden.
Als er Theo van Doesburg darauf aufmerksam machte, wurden sie in der Zeitschrift „De Stijl“ publiziert und Rietveld wurde auf einen Schlag bekannt. Als er 1924 zusammen mit Truus Schröder das „Schröderhuis“ entworfen und gebaut hat, wollte er zuerst etwas im Stil von Berlage entwickeln, aber Truus war nicht daran interessiert. Sie war in ihren Ideen zur Architektur schon weiter als er. Kurze Zeit danach kam er mit einem anderen Entwurf, der Truus begeisterte. Das Gebäude wurde als De-Stijl-Ikone weltberühmt. Truus war der Meinung, dass er als Architekt weiterarbeiten sollte. Er fühlte sich anfangs dafür noch nicht bereit, ließ sich aber überreden und richtete im Rietveld-Schröder-Haus ein Architekturbüro ein, in dem er mit Truus zusammenarbeitete. Beide waren sozial sehr engagiert und arbeiteten an Entwürfen für den sozialen Wohnungsbau, die zwar publiziert, aber nicht gebaut wurden. Die Wohnungsbaugesellschaft trauten ihm die Umsetzung nicht zu, weil er als zu experimentell bekannt war.
Rietveld wurde allerdings bald von Künstlern und Intellektuellen gebeten, Villen für sie zu bauen. Das tat er vor allem, um Geld zu verdienen. Später bekam er auch größere Aufträge für öffentliche Gebäude und er wurde auch als Architekt weltberühmt. Doch sein Leben lang entwarf er weiterhin Stühle zur Übung, um als Designer auf der Höhe der Zeit zu bleiben.
Rietveld betonte seinerzeit, dass es ihm nicht um Perfektion, sondern um eine neue Formensprache ging. Viele seiner Möbel wirken daher eher wie Raumstudien – oftmals hergestellt aus einfachen, günstigen Materialien – und sie sind auch nicht unbedingt bequem – frei nach dem Motto „Function follows Form“. Wie vertragen sich diese Imperfektionen mit der Idee einer seriellen, industriellen Fertigung, die Rietveld anstrebte? Und wie verhält sich das Individuelle zum Universellen in seinem Werk?
Rietveld entwickelte eine neue Formensprache, die entstand, weil der Raum das Medium war, mit dem er sich beschäftigte. Er versuchte die Form auf das Notwendigste zu reduzieren und einfaches, kostengünstiges Material zu gebrauchen. Er wollte auch, dass die Teile maschinell gefertigt werden konnten. Als Tischler entwarf er keine abstrakten Objekte, sondern Gebrauchsgegenstände. Er baute Möbel, die keinen Raum einnahmen und bei denen das Innen und Außen so wenig wie möglich getrennt waren. Auf seinen Stühle konnte man sitzen, aber nicht relaxen oder faulenzen.
Anfangs klebte er hinten auf die Rückenlehne des Rot-Blauen-Stuhls ein Gedicht von Morgenstern: „Wenn ich sitze, will ich nicht sitzen, wie mein Sitz-Fleisch möchte, sondern wie mein Sitz-Geist sich, säße er, den Stuhl sich flöchte.“ Sitzen verstand Rietveld als Aktivität. Der Rot-Blaue-Stuhl und der Berliner Stuhl entstanden nicht für die industrielle Produktion, sondern damit sie von den Menschen selbst gebaut werden konnten. Später hat er dann auch industiell zu fertigende Stühle wie den Mondial-Stuhl entworfen, den er zusammen mit seinem Sohn Wim entwickelte, und den Amersfoort-Stuhl.
Rietvelds Rot-Blauer-Stuhl ist heute – anders als von seinem Erfinder ursprünglich geplant – kein günstiger Gebrauchsgegenstand für eine breite Anzahl von Menschen, sondern er wird hochpreisig verkauft und als Ikone in internationalen Museen präsentiert. Was glauben Sie, haben heute noch die Utopien der Moderne noch Bestand?
Der Rot-Blaue-Stuhl ist und bleibt eine De-Stijl-Ikone, aber er ist auch nicht mehr als ein frühes Experiment. Rietveld entwarf nachher Vieles, was interessanter war. Der Stuhl wird nun zum 100. Jubiläum von De Stijl überall in Utrecht überdimensioniert gezeigt, aber das ist doch nicht mehr als ein simplifiziertes Klischee.
Was können wir von Gerrit Rietveld und De Stijl lernen bzw. was halten Sie für die großen gestalterischen oder architektonischen Aufgaben unserer Gegenwart?
Gerrit Rietveld wollte bezahlbare Wohnungen für Arbeiter bauen, die während der industriellen Revolution aus Brabant und Friesland in die Städte zogen, um dort Arbeit zu finden. Allerdings mussten sie dort oft in feuchten Souterrains unter bescheidenen Umständen leben. Von Rietveld können wir lernen, schöne und bezahlbare Wohnungen beispielsweise für Obdachlose, Flüchtlinge und Menschen zu bauen, die von Naturkatastrophen betroffen sind.