Less is more: Ein Mantra auf dem Prüfstand der Gegenwart
Ist weniger gleich mehr?, fragte kürzlich die Bundestagung der Museumsvolontäre in Berlin, bei der die allgemeine Tendenz und der „Mengenwahn“ zur gesteigerten Effizienz im aktuellen Ausstellungsmarkt kritisch diskutiert wurde.
„Ich habe immer alles Überflüssige vermieden und versucht, auch die technischen Innovationen im Vordergrund zu halten. Wenn ein Produkt für den Verbraucher sinnvoll sein soll, muss es etwas Neues bringen, eine neue Technologie oder einen neuen Gebrauchsnutzen. Mein Leitspruch bis heute: Weniger, aber besser.“
Interessant ist, dass hier der alte, seit dem frühen 20. Jahrhundert ständig wiederholte und inzwischen auch vielfach variierte Topos des „Less is more“ auf die gegenwärtige Praxis zurück gespiegelt wird. Kein Wunder, der globalisierte Ausstellungs- und Kunstbetrieb boomt scheinbar grenzenlos und ist nach wie vor auf Mehr (more) programmiert. Jedes Ausstellungsprojekt beansprucht anders, smarter und intelligenter als die anderen zu sein. Auch wenn es vielleicht nicht gerne gehört wird: Könnte nicht im laufenden Ausstellungsbetrieb auch ein Weniger (less) zukünftig an Relevanz gewinnen?
Eine neue Zeit, ein neuer Topos
Heute scheint der Topos des „Weniger ist mehr“ nicht mehr wirklich hinreichend für eine Beschreibung zeitgenössischer Wirklichkeiten zu sein. „Weniger, aber besser“ beschreibt dagegen eine neue Ebene der Auseinandersetzung. Als der renommierte Designer Dieter Rams, Gestalter der legendär minimalistisch anmutenden Braun Geräte, diesen Leitspruch für seine Arbeit formulierte, hatte er ein doppeltes Ziel erreicht. Mit nur drei Worten hatte er den Leittopos der funktionalistischen Moderne aufgegriffen und gleichzeitig um eine subtile Drehung entscheidend verändert. Wenn aus der bekannten Formel „Weniger ist mehr“ plötzlich die eingeschränkte Einsicht „Weniger, aber besser“ erwächst, dann stellt sich die Frage, was hier eigentlich alles auf dem Prüfstand steht – der Autor, sein Problem, seine Darstellungsweise oder seine eigene Zeit?
Als früher Protagonist des Topos „Less is more“ gilt der Architekt Mies van der Rohe, der dieses zur Formel geronnene Arbeitsmotto geprägt hat. Was als Formel einfach klingt erweist sich gegenwärtig als kommentarbedürftig. Als Form einer Unterscheidung (weniger / mehr) spielt die Formel ihrerseits mit einer Unterscheidbarkeit, die zunächst nicht wertet, sondern nur eine Paradoxie behauptet. Warum soll, fragt man sich, ausgerechnet ein Weniger ein Mehr sein? Die Formel ist natürlich deswegen so erfolgreich, weil sie nur funktioniert, wenn und insofern sie auf konkrete Kontexte angewandt wird – ansonsten bleibt es eine Leerformel ohne Relevanz. Man muss ihren historischen Sinn sozusagen entfalten, diesen auf die aktuelle Gegenwart und ihre jeweiligen Probleme beziehen. Das wird gerade heute in einer Zeit, in der die Zukunft buchstäblich immer mehr schmilzt, umso dringender. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr bewahrheitet sich vermutlich, dass „weniger einmal mehr“ sein wird.
Vom Mehrwert einer Formel
Derart einprägsame Formeln wie das bekannte „Weniger ist mehr“ offenbaren ein komplexes Wissen, das zwischen Erfahrung und Anwendung, zwischen logischer Komprimierung und ästhetischem Mehrwert oszilliert. Als ein Imperativ, der mehr ist als eine bloße Redewendung, sondern der wie ein geistvolles Mantra einen universellen Grundsatz eines bewusst reduzierenden Arbeitens beschwört, kann diese Formel vieles zugleich bedeuten: einen Anspruch an sich selbst, nichts unversucht zu lassen und im Endeffekt sogar sich mit einem Weniger zu bescheiden. Ein Vorbild in die Welt zu setzen, nach dem auch andere einmal sich selbst testen können. Was geschieht, wenn man aus gewohnten Abläufen ausbricht und sogar etwas einkalkuliert, was dem Streben nach bloßer Steigerung, dem Wunsch nach permanentem Mehr zuwider läuft? Oder auch ein zeitgenössisches Denkbild zu aktualisieren, das wie auch andere Topoi der ästhetischen Moderne heute eine eigene Biografie entwickelt hat. Während ein Sammler Objekte sammelt, sammelt eine Formel Erfahrungen, die wie in einem Brennglas ihre Zeit und ihre Widersprüche einfangen. Eine Prozedur wie die Idee eines „Weniger ist mehr“ aktiviert interessanterweise unsere Erinnerung an unterschwellig wirkende Lernerfahrungen – Priming-Effekte nennen Psychologen aktivierende Gedanken, die wir unaufmerksam aufgenommen und verinnerlicht haben und die wir (wieder-)entdecken können, wenn „wir in dem was wir bereits zu erkennen glauben, etwas Neues entdecken.“ (Ellen Langerin, Zeit-Magazin, Nr. 2. 22, 2016, S. 16.)
Eine zeitlose Formel
„Weniger, aber besser“ – das klang zu der Zeit als es Rams formulierte (1995) wahrscheinlich schon genau so cool und zeitlos smart wie es heute immer noch klingt. Mit weniger optimaler zu agieren setzt voraus, dass der Anwender sich auf das Wesentliche beschränkt, gewissermaßen punktgenau sein Problem definiert und dabei gleichzeitig auch anderes im Sinn hat: etwa einen Mehrwert zu erwirtschaften, von dem auch andere – beispielsweise die Gesellschaft – zukünftig profitieren kann. In heutigen Zeiten der hemmungslosen Selbstoptimierung, des Machens, Inszenierens und Verwertens ist dieses sicherlich keine dumme Idee.
„Nothing is everything“ – zwischen Logik und Kreativität
Schließlich reizt die Formel auch dazu, durch deren Veränderung die Position in der eigenen aktuellen Gegenwart zu markieren. Gerade Architekten haben sich in diesem Kontext durch immer wieder neue clevere Formulierungen hervorgetan (Laura S. Dishkes (Ed.), The Architekt says. Quotes, Quips and Words of Wisdom, New York 2013). So polemisierte Robert Venturi genüsslich gegen den Topos bzw. Mies van der Rohe als Architekt, indem er behauptete: „Less is a bore“. Und Rem Koolhaas wandelt die Formel in eine Gesdankenspielerei um: “If less is more, maybe nothing is everything”. Diese so logisch klingende Schlussfolgerung hat es in sich, weil sie sehr einfach demonstriert, was geschieht, wenn aus einer logischen Schlussfolgerung plötzlich eine neuartige Gabelung entsteht.
Vergleichsweise banal und nichtssagend erscheint dagegen eine Adaption der Formel für einen Slogan, den sich die Werber von Mercedes für den Smart einfielen ließen: „Reduce to the max“, heißt es da ganz plakativ. Originell geht auf jeden Fall anders …
Weniger ist mehr – reicht nicht mehr
Worin liegt nun am Ende eigentlich der Reiz einer Kurzformel, mit der man das gegenwärtige, in Echtzeit laufende Kommunizieren und Gestalten prägnant zusammenfassen könnte? Es jetzt anders als nur ewig besser zu machen, ist klüger als nur auf die Zukunft zu hoffen, die sich eh permanent verändern wird – so könnte eine weitere Variante lauten. Diese koppelt eine logische Unterscheidung mit einer Zeitbestimmung so zusammen, dass sie zwingt, sich ein eigenes Bild für die Folgen seines Arbeitens zu formulieren. Dachte man in früheren Zeiten noch im Modus des eher einfachen quantitativen Unterscheidens – weniger/mehr – so operiert man heute mit der Differenz zwischen Unterscheiden und Ermöglichen von neuen Fragestellungen, zwischen dem Anspruch kreativer Veränderung des herrschenden Ausdrucksvermögens und dem Wunsch scheinbar zeitlos gültige Formeln neu zu hinterfragen. Die früher einmal so beeindruckende Formel „Weniger ist mehr“ reicht heute nicht mehr aus, um unterschiedliche Wirklichkeiten zu gestalten. „Lieber jetzt anders als immer nur kreativ handeln“, so könnte in einem aktuellen Modus formuliert werden.
Ich danke Klaus Leuschel (Bern) für sachdienliche Hinweise zur Geschichte der Formel „Less is more“.