Nie da, wo man ist
Die Erfahrung, dass heute alles gleichzeitig geschieht und wir in sehr unterschiedlichen Situationen Momente von Gleichzeitigkeit erfahren, die wir in Echtzeit verarbeiten müssen, prägt unser Leben und Arbeiten wie nie zuvor.
Vieles wird immer mehr gleichzeitig möglich. Diese Option stellt uns die Frage, was aus dieser globalen Entwicklung für die Einzelnen folgen wird. Geraten wir in den Stress permanenter Selbstkontrolle? Oder erfahren wir die Gnade innerer Erkenntnis, dass nicht alles, was jetzt möglich ist, auch sofort realisiert werden muss? Auch wenn heute fast alles gleichzeitig geschieht, heißt das nicht, dass wir zu wenig Zeit für unsere Gegenwart opfern sollten. Im Gegenteil.
Die Güter produzierende Industrie führt seit einigen Jahren vor, wie die jeweils nächste Zukunft technisch funktionieren wird. So wie unterschiedlich komplexe Systeme permanent synchronisiert werden müssen, damit sie untereinander optimaler kommunizieren, so vergleichen wir heute unsere Gegenwart mit Optionen, die gleichzeitig existieren, die wir aber nur hier und jetzt realisieren können. Wo aber bleiben wir mit uns selbst, wenn unsere gleichzeitig gewordene Gegenwart zunehmend mit vielen und zwischen anderen geteilt wird?
Dass neben Ingenieuren und Programmierern besonders auch Künstlern und Kuratoren ständig Gleichzeitigkeiten durch den Kopf geistern, hat etwas mit der Erfahrung zu tun, die uns wie ein Schatten ihrer selbst verfolgt: Die Erfahrung (oder wohl auch die Obsession), dass sich Geschichte immer schneller in eine Gegenwart des Gleichzeitigen verwandelt. In der heute möglich gewordenen technischen Produktion und Präsenz von Gleichzeitigkeiten sind Chancen und Risiken ihrer Anwendungen gleichzeitig möglich.[1] Der Imperativ heutiger Gegenwart ist eine kommunizierende Paradoxie, deren Botschaft lautet: Sei gleichzeitig – überall! Nicht mehr der Weg ist das Ziel, sondern die unzähligen Optionen, die sich unterwegs in jedem Moment neu ergeben: Man könnte immer noch mehr und immer noch anders – hätte man jetzt jemals genügend Zeit für alles, was gleichzeitig geschieht – oder eben gerade nicht.
Auch und gerade im Museum geht es um die Herstellung von (realer oder fiktiver ) Gleichzeitigkeit – um deren verführerische Aura und um die Herausforderung, diese präsent werden zu lassen. Etwa bei der Entwicklung von neuen Ausstellungen, die – wie besonders im Marta Herford zu beobachten – möglichst immer auf direkter Augenhöhe parallel zur sich ereignenden Gegenwart entwickelt und realisiert werden. In einem lebendigen Museum existieren jedoch immer auch unrealisierte Ausstellungen, von denen ein Kurator vielleicht seit langem träumt – Ideen, die man realisieren könnte, wenn sie selbst nicht so unwahrscheinlich klingen würden. Ob Autor, Leser und User: Man ist immer häufiger gleichzeitig mit Anderem beschäftigt – und nie ganz da, wo man gerade ist. Ist Gleichzeitigkeit nicht vielleicht ein gegenwärtiger Traum, den man solange träumt, bis er wahr geworden ist?
Wie aber müsste nun eine aktuelle Oberfläche aussehen, die unsere gewohnte Anschauung eines Nacheinanders in etwas Neues transformiert, das seinerseits unterschiedlichste Gleichzeitigkeiten zum Ausdruck bringen könnte? Wenn wie heute alles, das Leben, die Bilder, die Kunst und ihre Theorien in ein schnelles Nebeneinander von kurzen Flüchtigkeiten zersplittert, bekommt man den Eindruck, dass Geschichte immer schneller zu einer immer schneller vergehenden Gegenwart kondensiert. Das Internet ist ein Zeitbeschleuniger schlechthin: es fungiert als ein einzigartiger Tempomacher, eine soziale Zivilisationsmaschine, die Geschichte in unendlich viele, soeben jetzt geschehende Gleichzeitigkeiten zerlegt und aus Lebenszeit zunehmend Aufmerksamkeit werden lässt.
Es gibt nun ein sehr altes, nicht-technisches Medium, dass gleichzeitiger und geistesgegenwärtiger als vieles andere funktioniert – eine speziell ausgewählte Idee! Ideen sind unsichtbar und temporär, machtvoll und assoziativ – ein soziales Kapital, das unsere Gegenwart beflügelt und am Leben erhält. Ein Vogel im Flug, ein Auge, das mich erblickt, eine Feder, die vom Himmel taumelt? Wie schnell entsteht etwas Neues im Kopf, wenn Ideen zu Assoziationen generiert werden? Die mögliche Form einer gleichzeitigen Verwandlung von Idee und Bild ist ein lustvoll unbekannter Moment, in dem etwas Neues geistesgegenwärtig wird. In einem einzigen Moment – jetzt – kann aus einer uns selbst überraschenden Idee eines Bildes etwas entstehen, womit wir bisher nie gerechnet hatten. Überraschung pur – Erkenntnislust funktioniert assoziativ schneller als mühsam grübelndes Nachdenken. Ist eine taumelnde Feder nicht ein poetisches Bild für eine Leichtigkeit, mit der einem unter der Hand plötzlich vieles gleichzeitig gelingt? Vergleiche sind dann erfolgreich, wenn sie unsere Bilder von Zusammenhängen verändern, uns zur Selbsterkenntnis aktivieren.
In der Gehirnforschung[2] hat sich kürzlich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Assoziationen – quasi das Dopamin für die Bildung von neuen Ideen – besonders dann gut gedeihen, wenn unterschiedliche Eindrücke assoziativ gleichzeitig aufeinandertreffen und so neue Erregungsmuster aktiviert werden: So wie Assoziationen unser Bewusstsein beim bewussten Machen unterstützen, so die Idee der Gleichzeitigkeit beim aktuellen Schreiben genau dieses Textes.
Zum Denken brauchen wir jeweils ein unmittelbares Echo des jeweils eigenen Tuns. Oder anders gesagt: Man kann immer nur so schnell seine Ideen zu Papier bringen, wie man auch genügend Zeit findet, diese in einer bestimmten Folge geordnet zu formulieren. Die Idee eine aktuelle Geschichte wie ein Geschehen seiner Gleichzeitigkeit zu formulieren, wird wohl ein Traum bleiben – einer, der einfach zu schön ist, um realisiert zu werden. Vermutlich genau das macht die Sache heute so spannend, werden doch die technischen und die geistesgegenwärtigen Möglichkeiten zur Vergleichzeitigung unserer Gegenwart sicher eher zu- als abnehmen.
Manchmal sind Kunstereignisse nicht mehr direkt an ihrer äußeren Form erkenntlich. Die Begegnungen, wie sie etwa Tino Sehgal und Marina Abramović inszenieren, entstehen und vergehen in dem kurzen intensiven Moment, in dem sie jetzt in ihren Betrachter nachwirken. So wie deren subtile Reflexion zur Zeitgenossenschaft von Kunstereignissen das Bild dessen verändert, was jetzt neu miteinander verknüpft wird, so verändert ein erweiterter Begriff von Gleichzeitigkeit die Gegenwart. Die Resonanz, das sichere Gefühl, soeben Zeuge eines zeitgenössischen Moments geworden zu sein, der in und mit meinem Bewusstsein performativ/gleichzeitig entsteht, hinterlässt nicht selten ein Moment von Erhabenheit.
In dem Moment, in dem wir ein historisches Objekt, einen Kontext oder eine Idee wie etwas Zeitgenössisches inszenieren, haben wir Geschichte in Gegenwart verwandelt, Gleichzeitigkeit produziert. Genau in der Zeit, kurz bevor dieser Text abgeschlossen sein wird, lese ich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine kluge essayistische Skizze Niklas Maaks zu Giacomettis Schatten.[3] „Es gibt Dinge, die nur in einem bestimmten kurzen Moment ihre Geheimnisse enthüllen, zu einem Zeitpunkt, an dem das Licht und die Temperatur stimmen …. . “ In der Mittagszeit, so schreibt Maak weiter, wenn im Innenhof der Fondation Maeght plötzlich die Sonne durch die Wolken bricht, „passiert etwas Erstaunliches: Die Figur wirft einen kurzen, scharfen Schatten und dieser Schatten zeigt das eindeutige Bild einer gar nicht dürren Person mit ausladenden Hüften.“ Das Ende seiner Beobachtungen beschließt Maak mit folgenden Reflexionen: „Die sichtbare Skulptur ist nur der nachgebaute Schatten. Der eigentliche, versteckte Körper wird schlagartig und kurz sichtbar, um mit der nächste Wolke, die sich vor die Sonne schiebt, wieder zu verschwinden – worin eine schöne antiplatonische Ironie liegt: Draußen vor der Höhle steht nur längliches Material herum; erst das Trugbild macht das Eigentliche sichtbar.“ Das Eigentliche, um das es Niklas Maak in seinem Denkbild geht, ist offenbar eine sehr kurze Begegnung mit einer erweiterten Gegenwart – auch so lässt sich Gleichzeitigkeit in eine Folge von Gedanken fassen.
Anmerkungen
[1] Vgl. dazu Philipp Hubmann, Till Julian Huss Hg., Simultaneität. Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten. Bielefeld 2013.
[2] vgl. Neuron, Bd. 87, 2015, S. 1.
[3] Niklas Maak, Giacomettis Schatten. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19. Juli 2015, S. 42.