Stadt und Vision mit Prof. Stefan Rettich
Vom Büro KARO*architekten war Prof. Stefan Rettich als Impulsreferent der Reihe „Stadt und Vision – Herforder Architekturgespräche“ im Februar zu Gast im Marta: Unter dem Titel „Moderne-Post-Moderne“ sprach er über „Recycling und Rekonstruktion als symbolische Praxis“, ein Thema, welches auch an die aktuelle Ausstellung „8. RecyclingDesignpreis“ angelehnt ist.
In Rettichs Sicht ist die Verwendung von Zitaten in der Architektur heute weitaus differenzierter als zu Beginn der Postmoderne: Vergleichbar der Debatte über die Rekonstruktion haben sich vielfältige kritische Praktiken entwickelt, die breite Anerkennung in der zeitgenössischen Architektur finden. Da spielt Kunst wie so oft hier eine Pionierrolle für die Architektur. Rettich veranschaulichte seine These anhand von Projektbeispielen, die von KARO*architekten realisiert wurden.
Literarisches Stadtmöbel: Upcycling einer Horten-Kaufhausfassade
Eines der vorgestellten Projekte war das „Lesezeichen Salbke“, eine Freiluftbibliothek im schrumpfenden Magdeburger Stadtteil Salbke, die auf der Brachfläche der ehemaligen Ortsbibliothek entstand: Ausgangspunkt war ein temporäres Vorhaben, welches unter Einbindung der Bevölkerung, von der insgesamt 20.000 Bücher gespendet wurden, in einem längeren Prozess der Kommunikation und Interaktion schließlich zu einem permanenten Ort der Begegnung wurde (Ausführung 2007–2009). Als charakteristisches „Baumaterial“ wurden die Fassadenelemente eines zum Abbruch bestimmten Horten-Kaufhauses im Hamm / Westfalen verwendet. Nicht nur der Recyclingaspekt im materiell-ökologischen Sinne spielt hier eine Rolle, von Bedeutung ist auch die Ästhetik einer Wiederverwendung von Zeichen einer Architektur der Nachkriegsmoderne. Mehr Infos
Prof. Stefan Rettich beantwortete uns anschließend folgende Fragen:
Wie würden Sie gute Architektur beschreiben?
Ende der 1990er Jahre habe ich persönlich erlebt, wie ganze Städte durch Abwanderung und Leerstand in ihrer Existenz gefährdet waren. Wir haben daraufhin in unserem Büro einen erweiterten Raumbegriff eingeführt, der sich über das Herstellen und Ordnen von sozialen Beziehungen definiert. Architektur oder ihre Neuprogrammierung sind nur ein (physischer) Bestandteil dieser Raumvorstellung, sie können aber unter diesem Blickwinkel einen entscheidenden Beitrag für die positive Entwicklung einer Stadtgesellschaft leisten, übrigens auch in wachsenden Kontexten.
Welches Projekt würden Sie als Ihr persönliches Meisterstück (oder das Ihres Büros) bezeichnen?
Meisterstück ist für unsere Auffassung von Architektur kein passender Begriff, da wir viel mit strategischen Ansätzen arbeiten. In dieser Hinsicht ist dies dann sicherlich das Lesezeichen Salbke, eine Freiluftbibliothek in Magdeburg, weil wir bei diesem Projekt vieles ausprobiert haben, über das wir schon länger nachgedacht hatten – zum Beispiel, wie man mit einer temporären Installation städtische Funktionen testen kann, wie man Planungsprozesse organisieren muss, um die Zivilgesellschaft für die aktive Gestaltung ihrer Umwelt zu begeistern und wie man bei alldem auch die Ästhetik eines Bauwerks im Blick behält, damit es sich gut und selbstbewusst in den Kontext einfügt.
Welches Gebäude hätten Sie gerne selbst entworfen?
Am stärksten – und das bis heute – beeindruckt mich das „Centre Pompidou“ in Paris. Es ist der Grund, weshalb ich mich für ein Studium der Architektur entschieden habe. Diese Mini-Megastruktur wirkt in ihrer historischen Umbauung so unerhört frech, dass man sie unbedingt erkunden will. Und der Clou, früher war es möglich, ohne auch nur einen Centime ausgeben zu müssen: Mit leicht federndem Schritt den abfallenden Vorplatz hinunter in die große, zentrale Halle, links hinauf zur Verteilerebene mit der gläsernen Rolltreppe und von dort ganz sacht nach oben gleiten, sous le ciel de Paris. Ein wenig beachteter Aspekt dieser Schwellenlosigkeit ist die Wahl des Grundstücks selbst. In unmittelbarer Nähe zum gleichzeitig entstandenen Forum Les Halles, wo sich die Linien der großen Vorortzüge kreuzen, sollte eine kulturelle Verknüpfung zwischen Suburbia und City entstehen und damit auch die Anbindung der Grands Ensembles. In den 1980er Jahren hat das überaus gut funktioniert, der Vorplatz war ein Hotspot der „Generation Interrail“. Hier traf sich die Jugend Europas mit den Vorstadtindianern, den elaborierten Parisern und anderen Touristen. Leider sind viele dieser verborgenen Qualitäten mit der kürzlich durchgeführten Sanierung verlorengegangen. Architektur ist eben ganz wesentlich auch eine programmatische Frage.
Sehen Sie in der Verwendung alter, gebrauchter Materialien (z.B. von in Abriss befindlichen Bauten) eine Möglichkeit, das Bauen nachhaltiger zu gestalten, und wäre das in der Architektur auch flächendeckend denkbar?
Wir haben heute schon eine recht gute Bilanz beim Recycling von Materialien. Diese Form der Nachhaltigkeit ist sicher ökologisch richtig und wichtig, interessiert mich aber weniger. In der Materialisierung eines Gebäudes ist nicht nur Energie, sondern auch Zeit- und Ideengeschichte eingeschrieben. Die Wieder- oder Weiterverwendung von spezifischen Zeichen und Symbolen einer Architektur ist für uns eine wesentliche Praxis, Geschichte fortzuschreiben oder für die Zukunft neu zu deuten. Auch ein radikaler Um- und Weiterbau von wenig spektakulären Profanbauten zielt in diese Richtung, wie lässt sich zum Beispiel der von vielen Menschen geschmähte Brutalismus mit wenigen, scharfen Eingriffen so aufwerten, dass er auch für unsere aktuelle Gesellschaft zu einem ästhetischen Gewinn wird?
Wenn Sie vor ca. 17 Jahren das Marta Herford hätten planen können, wie würde es aussehen?
Wir hätten den Auftrag sicher nicht erhalten, und das aus gutem Grund: Gefragt und gebaut wurde eine Signature-Architecture, um die Stadt Herford auf der bundesdeutschen Kulturlandkarte zu verankern. An solchen Themen sind wir weniger interessiert, wir hätten vermutlich vorgeschlagen, Herford über seine schon vorhandenen, indigenen Potentiale nach vorne zu bringen.