Wörterbuch KunstSprech (9) →hinterfragen
Eine beliebige Fundstelle: „Die Künstler hinterfragen in ihrer individuellen Arbeit grundlegende Aspekte der menschlichen Existenz und Gesellschaft.“
Die Kunstwissenschaftlerin oder der Künstler (geschlechtlich gerne auch vice versa) sind ja in der Regel per se kritische Geister. Ja, vielleicht ist die Kunst selbst eine Äußerungsform, die ihre Kraft nicht aus der heiteren Affirmation, sondern aus dem Zweifel und der unbequemen Befragung bezieht. KünstlerInnen hinterfragen das, was uns lieb und vertraut erscheint. Gerne sind das die viel zitierten Sehkonventionen oder die etablierten Bildtraditionen. Aber wie genau sieht dieses Hinterfragen aus, woran erkennt man es am einzelnen Werk? Oder anders nachgehakt: Könnte so manche der auffällig oft im Kunstkontext konstatierten Hinterfragungen nicht auch eine eher hilflose Behauptung des/der KuratorIn sein, deren Beweis ziemlich spekulativ ausfallen würde?
Die im September zu Ende gegangene documenta 14 führte es nicht nur exemplarisch, sondern bis zum äußersten getrieben vor: Die Kunst der Gegenwart – zumindest die hier versammelte – nimmt sich die Welt zum Thema. Sie greift unhaltbare Zustände in Politik und Gesellschaft, in Natur und Technik auf, um sie kritisch zu beleuchten, um ihre verborgenen Strukturen, Antriebskräfte und Einflussnahmen sichtbar zu machen. Diese Kunst „hinterfragt“, schickt sich an – wie der Duden diesen Begriff erklärt – „nach den Hintergründen, Voraussetzungen und Grundlagen von etwas [zu] fragen“.
Mehr Licht bitte
Aber jetzt erst recht: Woran erkennt man dieses Fragen, wenn es nicht als solches explizit formuliert ist? Erst einmal hat man bei einem Kunstwerk ein Bild vor Augen, ein Video, einen Sound, eine Installation. Manchmal mit, manchmal ohne Text, aber mit starken visuellen oder anderen Eindrücken, Schnitten und Zusammenfügungen. Ernst wird es in dem Moment, in dem dieses Werk interpretiert werden soll oder muss, wenn also Intention, Zielrichtung und Mittel benannt werden, um dem Betrachter einen Schlüssel zum Verständnis anzubieten.
Da ist dann ein Satz wie „Der Künstler hinterfragt mit seiner Arbeit die Strukturen der Macht.“ wenig aufschlussreich, denn er produziert selbst mehr Fragen, als dass er Verständnishilfen anbietet. Wie tut dieser Künstler das denn? Und wie kommt man zu dieser Feststellung? Was ist von diesem Hinterfragen konkret sichtbar? Abgesehen davon, dass „hinterfragen“ einfach fest zum gerade aktuellen Kunstjargon gehört (und nicht etwa „befragen“ oder „zur Diskussion stellen“ oder „kritisch beleuchten“), impliziert die oben zitierte Aussage aber auch ein gefährliches „Das sieht man ja wohl“.
Wesentlich hilfreicher wäre es, wenn man anhand einzelner Elemente kurz skizziert, woran sich die kritische Infragestellung festmachen lässt, wie aus einem komplexen ästhetischen Ganzen tatsächlich konkrete Fragen nach konkreten Zusammenhängen erwachsen. Und vor allem auch: Wo und in welche Richtung sich Haltungen, Rückschlüsse abzeichnen. Denn allein ein grundsätzliches Infragestellen von irgendwas (am besten noch Sehkonventionen; wessen, in welcher Zeit, wie etabliert) ist für ein künstlerisches Werk dann ja doch eine allzu kraftlose Geste.
Wann wird es interessant?
So schlägt einem aus bestimmten Texten eine Haltung entgegen, die so tut, als sei das „Hinterfragen“ an sich schon eine Werkqualität, die keinerlei Begründung mehr erfordert. Nur keine affirmative Kunst, dann ist alles gut! Worin allerdings die kritische Haltung begründet ist, wie sich konkrete Fragen nach Hintergründen aus dem Werk herausschälen, das sind interpretatorische Zugriffe, die so mancher Autorin, so manchem Autor dann doch zu heiß werden. Heraus kommt dabei aber nur eine etwas arrogant wirkenden kuratorische Haltung, die etwas für alle als offensichtlich hinstellt, was es in den meisten Fällen aber gar nicht ist.
Dass das obligatorische Hinterfragen am Ende genauso uninteressant, unpräzise oder innerhalb der Community affirmativ ausfallen kann, auch dafür hatte die diesjährige documenta einige schlagende Beispiele parat. Das Kunstwerk ist kein „Erklärbär“, keine differenzierte Analyse der gesellschaftlichen Realität, sondern es thematisiert mit ästhetischen Möglichkeiten Bruchstellen in ganz unterschiedlichen Sinnzusammenhängen. Es übersetzt den Alltag in etwas anderes, primär ästhetisch erfahrbares, das bisweilen gesichert geglaubte Voraussetzung neu infrage stellt. Aber wie es das tut, welche Fragen denn gestellt werden, das konkreter zu benennen ist nach wie vor eine Herausforderung für die Vermittlung – von der Pressemitteilung bis zum Wandtext.
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Wörterbuch KunstSprech (1) Einführung: Fachsprache vs. Fachsprech
3 Replies to “Wörterbuch KunstSprech (9) →hinterfragen”
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Lieber Herr Nachtigäller,
wieder ein feines Stückchen Kunstsprech. Nein, Erklärbär ist das Kunstwerk nicht. Aber mir gefällt die Idee, dass man hingeht und versucht, zu identifizieren, welche Fragen sich beim künstlerischen Prozess ergeben haben. Denn wenn man das Hinterfragen mal ganz wörtlich nehmen könnte, dann kommt man vielleicht auf Antworten.
Herzlichst
Anke von Heyl
Liebe Anke von Heyl,
das gibt jetzt aber einen dicken Punktabzug für verzögerte Blogger-Kommunikation. Sorry, aber die letzten Tage waren so randvoll mit Reisen und Projekten, dass ich die Community ein wenig aus dem Blick verloren habe.
Vielen Dank auf jeden Fall für Ihre prompte Reaktion auf den Text. Und ich glaube, da sind wir uns völlig einig: Das Fragen ist noch immer die beste Haltung von, mit und gegenüber der Kunst. Mir ging es auch nur darum, nicht in Floskeln zu erstarren, sondern – wie Sie es richtig schreiben – Fragen ernst zu nehmen.
Mit besten Grüßen
Roland Nachtigäller
Lieber Roland Nachtigäller,
nein, weiterhin volle Punktzahl für den bloggenden Museumschef!
Herzlichst
Anke von Heyl