5 Fragen an Dr. Gerd Müller
Dr. Gerd Müller war von 2013 bis 2021 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und trug über 32 Jahre Verantwortung im Europäischen Parlament sowie im Deutschen Bundestag. In den letzten Jahren hat sich der CSU-Politiker für soziale und ökologische Belange insbesondere in der Textilproduktion eingesetzt.
In seiner Amtszeit legte er mit dem „Grünen Knopf“ ein staatliches Textilsiegel auf und initiierte eine Gesetzesdebatte, um die weltweiten Produktions- und Arbeitsbedingungen auch in der Modebranche zu verbessern. Marta-Kuratorin Friederike Fast sprach anlässlich unserer Ausstellungspublikation „Look! – Enthüllungen zu Kunst und Fashion“ im vergangenen Jahr mit ihm über die Herausforderungen in der Modeindustrie.
Friederike Fast (FF): Als Entwicklungsminister reisen Sie sehr viel und haben sich auch einen tieferen Eindruck von den Produktionszusammenhängen der Modebranche in verschiedenen Ländern dieser Welt verschafft. Welche Situationen waren besonders eindrücklich für Sie und welche Bilder sind Ihnen nachhaltig im Kopf geblieben?
Dr. Gerd Müller (GM): 2013 stürzte in Bangladesch die Textilfabrik Rana Plaza ein. Damals mussten 1.500 Näher*innen sterben. Die Bilder des eingestürzten Gebäudes haben sich vielen Menschen ins Gedächtnis gebrannt – auch mir. 2015 habe ich mit Überlebenden des Unglücks sprechen können, die mir geschildert haben, unter welchen Bedingungen sie arbeiten müssen: Häufig bedeutet das 14-Stunden-Tage, Hungerlöhne, Entlassung bei Krankheit oder Schwangerschaft. Das sind Arbeitsbedingungen, die in Deutschland schon lange nicht mehr zulässig sind. Warum sollten wir sie dann im Ausland akzeptieren?
Das Schlimme an Rana Plaza war: Das Unglück war vorhersehbar und es wäre vermeidbar gewesen. In den vergangenen Jahren habe ich auch Nähfabriken besucht, die unter hohen sozialen Standards arbeiten. Das ist aber leider weiterhin die Ausnahme. Rana Plaza darf sich niemals wiederholen. Dafür setze ich mich ein!
FF: Eines Ihrer Herzensprojekte in Ihrer Funktion als Entwicklungsminister ist es, ein Lieferkettengesetz auf den Weg zu bringen. Welche Ziele verfolgen Sie damit und woran ist es bisher gescheitert?
GM: Fast 75 Millionen Kinder werden weltweit ausgebeutet, auf Baumwollfeldern, auf Kakaoplantagen oder in Minen, in denen Coltan für unsere Handys abgebaut wird. Bei vielen Näherinnen und Nähern reicht der Lohn nicht, um für die Familie genug Essen zu kaufen, die Kinder in die Schule zu schicken oder zum Arzt zu gehen. Wir alle tragen Verantwortung dafür, dass sich hieran etwas ändert: Die Politik, Verbraucher*innen, aber auch die Unternehmen. Bei dem Gesetz geht es darum, dass große Unternehmen die Risiken in ihren Lieferketten kennen und grundlegende Menschenrechtsverletzungen abstellen. Die Unternehmen, die bei unserem Textilsiegel „Grüner Knopf“ mitmachen, zeigen, dass dies möglich ist. Freiwilligkeit alleine reicht aber nicht. Darum sind wir uns in der Bundesregierung einig, dass wir ein verbindliches Gesetz brauchen. Ich bin zuversichtlich, dass dieses Gesetz auch bis 2021 – solange ich Minister bin – verabschiedet werden wird.
FF: Wie lösen Sie für sich persönlich das Bekleidungsdilemma? Haben Sie sich Regeln aufgestellt für den Kleiderkauf und wenn ja, welche?
GM: Die erste Frage ist immer: Brauche ich das Kleidungsstück wirklich? 60 Kleidungsstücke kauft jede und jeder Deutsche durchschnittlich im Jahr. Vieles davon wird dann aber gar nicht getragen oder landet als Retoure auf dem Müll. Das muss nicht sein!
Wenn ich etwas kaufe, dann achte ich auf Nachhaltigkeitssiegel wie den „Grünen Knopf“. Hier bin ich mir sicher, dass die Kleidung unter hohen Arbeits- und Umweltstandards hergestellt wurde und das Unternehmen die Menschenrechte in der Lieferkette achtet. Dabei muss faire Kleidung nicht unbedingt teuer sein. Den „Grünen Knopf“ gibt es also für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel.
FF: Welche Auswirkungen könnte Ihrer Meinung nach die Pandemie auf die Wirtschaft und auf die Modebranche im In- und Ausland haben?
GM: Die Coronapandemie hat die Modebranche schwer getroffen: Bei uns in Deutschland, vor allem aber in den Produktionsländern. Die Pandemie hat erneut die Schattenseiten der globalen Textilindustrie offengelegt: Hunderttausende von Arbeiter*innen standen buchstäblich von einem Tag auf den anderen vor dem Nichts, weil sie mangels Aufträgen kurzfristig entlassen wurden. Wer nur einen Hungerlohn verdient, kann auch nicht für Krisenzeiten vorsorgen. So wird für viele Menschen aus einer wirtschaftlichen Krise eine persönliche Katastrophe.
Viele Unternehmen haben erkannt, dass funktionierende Lieferketten keine Selbstverständlichkeit sind. Ich hoffe, dass sie daraus auch die richtigen Schlüsse ziehen und zunehmend auf nachhaltige Produktionsbedingungen setzen: faire Löhne und Arbeitszeiten, Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Ihnen muss klar sein: Nachhaltige Lieferketten sind eine Frage sozialer Verantwortung – und wirtschaftlicher Vernunft.
FF: Im Herbst 2021 werden Sie aus der Politik ausscheiden. Was möchten Sie Ihren Kolleg*innen raten, um den Klimaschutz und die Arbeitsbedingungen in der Modeindustrie zu verbessern?
GM: Ich glaube nicht, dass meine Kolleginnen und Kollegen Ratschläge brauchen. Was wir alle aber nie vergessen dürfen, ist der Respekt für Mensch und Umwelt: Am Anfang eines jeden Produktes steht ein Mensch, der von seiner Arbeit leben können muss. Und wir haben nur diese eine Erde – so sollten wir sie auch behandeln.