5 Fragen an Nina Fischer und Maroan el Sani
Nina Fischer und Maroan el Sani arbeiten seit 1993 als Künstlerpaar zusammen. In ihrem Schaffen verhandeln sie gesellschaftliche Veränderungen mit unterschiedlichen Medien wie Film, Fotografie, Installation und Skulptur. Vor einigen Jahren führte sie ihre Tätigkeit als Professor*innen für Film- und Medienkunst nach Japan. Dort entstand auch der Film „Spelling Dystopia“ (Dystopie buchstabieren), der in der aktuellen Ausstellung „Glas und Beton“ im Marta Herford gezeigt wird.
In diesem Interview fragen wir nach den Geschichten hinter der geheimnisvollen Insel Hashima (auch Gunkanjima genannt), die Ende des 19. Jahrhunderts zur Gewinnung von Kohle besiedelt wurde und 1974 (als der Kohlebergbau eingestellt wurde) als eine Art Geisterstadt zurückgelassen wurde. Da die Ausstellung „Glas und Beton“ in die Verlängerung ging, ist dieser faszinierende Film noch bis zum 4. Oktober zu sehen.
Nach der Beschäftigung mit paranormalen Phänomenen und der menschlichen Psyche ist Architektur in den letzten Jahren ein immer wiederkehrendes Motiv in Euren Werken. Neben dem Palast der Republik oder einem Parteigebäude Oscar Niemeyers in Paris wird in dem Film „Spelling Dystopia“ nun die japanische Kohleförderinsel Hashima mit ihren rohen Betonbauten zum Ort des Geschehens. Woher stammt dieses brennende Interesse für Architektur und was hat das mit Euren früheren Arbeiten zu tun?
Nina Fischer und Maroan el Sani (NF/ MS): In den früheren Werken handelt es sich um Orte, die zum Zeitpunkt unserer Dreharbeiten, nicht mehr oder auch noch nicht genutzt wurden. Zumeist sind es leerstehende Gebäude, deren Zukunft ungewiss ist. Sie verharren in einer Art Übergangssituation, in einer Vakuumsituation zwischen zwei Bestimmungen oder vor ihrem endgültigen Verschwinden. Es sagt auch immer etwas über eine Gesellschaft aus, welche Gebäude sie erhält, oder verschwinden lässt. In dieser Zeit sind sie offen für die Projektionen der Betrachter*innen, als Ort der vielfältigen kollektiven aber auch individuellen Erinnerungen, aber auch für Zukunftsvisionen, seien sie fiktiver oder auch realer Art. Es sind zugleich Heterotopien – Orte, deren Bedeutung nicht statisch ist. Das macht diese Orte für uns so spannend.
Das Interesse an diesen Orten lässt sich darauf zurückführen, dass wir unsere Zusammenarbeit als Bildende Künstler*innen und Filmemacher*innen Anfang der 1990er Jahre in Berlin begannen, als sich die Stadt auch in einer Art Übergangssituation befand. Teile der Stadt, zum Beispiel Berlin Mitte, das alte jüdische Scheunenviertel, waren 1989 zum Zeitpunkt des Mauerfalls schon größtenteils „entwohnt“ und die Bewohner*innen in die neuen Hochhaussiedlungen wie Marzahn und Hellersdorf in helle, lichte Neubauwohnungen umgesiedelt. Das alte, nach dem Krieg nur teilweise wieder instand gesetzte Scheunenviertel sollte ebenfalls Neubauten weichen, wie rund um den Alexanderplatz. In den 1990er Jahren wurden Ateliers und Wohnungen nur zur „Zwischennutzung“ auf Zeit freigegeben, da teilweise die Rückgabe an jüdische Erbengemeinschaften anstand, oder die Gebäude aus der Treuhandverwaltung an Käufer*innen auf dem freien Markt abgegeben wurden. Künstler*innen waren die Zwischennutzer*innen, Nomaden der Stadt. Ebenso die kleinen Clubs, die uns in der Zeit als Treffpunkte dienten. Von diesen Orten haben wir auch eine Fotoserie gemacht: „Phantomclubs“. Wir haben sie so genannt, weil sie zum Teil schon wieder verschwunden waren, wenn man das erste Mal von ihnen gehört hatte.
Viele Gebäude in Ost-Berlin sind direkt nach dem Mauerfall auch verschwunden. Nicht nur der Palast der Republik, der ja von 1990 bis 2009 langsam „zurückgebaut“ wurde. Das Bewusstsein dafür, dass eine Stadt wie Berlin ja von der Vielfältigkeit seines architektonischen Erbes lebt, dass dadurch auch die verschiedenen Epochen sichtbar werden und man darin wandeln kann wie durch die Geschichte, stellte sich erst langsam ein und wird leider heute nicht mehr konsequent weiterverfolgt. Dieses Interesse an Orten, ihrer Geschichte und ihren Möglichkeiten der Verwandlung zu etwas Neuem, eine Veränderung, die mit der Veränderung der Gesellschaft einhergeht und neue Möglichkeiten aufzeigt, interessiert uns auch weiterhin.
Welche Rolle spielt das Material Beton in dem Film?
NF: Beton ist was man daraus macht. 🙂 Dieser Spruch kommt mir immer sofort in den Sinn, wenn es um Betonbauten geht. Wir sind in den 1970ern aufgewachsen, und in meiner Heimtstadt Emden findet man an jeder Straßenecke gigantische Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg, in denen wir als Kinder gespielt haben und in denen unter anderem Übungsräume für Bands eingerichtet waren.
Seit unserer gemeinsamen Zeit in Berlin hat uns die Architektur der Moderne immer wieder sehr interessiert. Wir pilgerten zum Bauhaus nach Dessau, zum Haus von Le Corbusier nach Marseille, zu Niemeyer nach Paris und Rio, zu den metabolistischen Architekturen in Tokyo und zur Insel Hashima, auf der die ersten Betonhochhäuser Japans in den 1910er Jahren gebaut wurden, nach dem Vorbild von Chicago. Der Professor aus Nagasaki, der uns auf die erste Inselumrundung mitnahm, forschte zu dem Thema: Wie langlebig ist Beton? Die Insel Hashima war sein wissenschaftliches Rechercheprojekt.
In den letzten Jahren ist vermehrt auch der Klimawandel Gegenstand unserer künstlerischen Forschung. Dabei schneidet Beton als Baustoff zunehmend schlecht ab, denn seine Produktion verbraucht nicht nur sehr viele Ressourcen wie Sand, sondern setzt auch CO2 frei, derzeit 8% des weltweiten Ausstoßes. Dafür bräuchte es in Zukunft klimafreundlichere Alternativen. Auch Hashima steht als Metapher für eine Welt, in der die Ressourcen aufgebraucht wurden, und die so schließlich unbewohnbar geworden ist. Damit wird sie zum Sinnbild und zum Mahnmal für einen bedachten Umgang mit unseren Ressourcen.
Wie seid Ihr bei Euren Recherchen für das Filmprojekt vorgegangen, und gibt es besondere Erlebnisse oder Anekdoten, die mit der Produktion verbunden sind?
NF/ MS: Die Recherchen waren recht aufwendig. Wir hatten von der Insel durch einen Freund in Japan gehört, da wir zu der Zeit an der Sapporo City Universität Medienkunst lehrten. Wir wollten unbedingt dort hin, aber es war nicht offiziell gestattet, die Insel zu besuchen. Wir haben dann mit einer NGO Kontakt aufgenommen, die versuchte, Hashima zum Weltkulturerbe der UNESCO zu erklären und dann zu dem oben genannten Professor an der Uni in Nagasaki, der Beton erforscht. Diese beiden haben wir dann in Nagasaki besucht und mit ihnen gesprochen. Um die Insel zu betreten, mussten wir von der Stadt Nagasaki eine offizielle Drehgenehmigung bekommen.
Wir durften aber nur an zwei Tagen für jeweils vier Stunden auf die Insel und auch keine Vorbesichtigung machen. Daher mussten wir den Dreh virtuell anhand einer Karte planen (es gab 2008 ja auch noch kein Google Earth mit 3D-Ansicht). Am Drehtag fuhren wir mit einem eigens gecharterten Boot mit unserem Filmteam bestehend aus dem Steadycam Operator, einem zweiten Kameramann, Assistenten, Soundoperator, der Übersetzerin, zwei Mitarbeitern der Stadtverwaltung sowie einem Mitglied der NGO, Herr Sakamoto, auf die Insel. Am ersten Tag durften wir die baufälligen Gebäude nicht betreten, obwohl das unser Plan war und uns Herr Sakamoto, von der NGO zeigen wollte, wo er als Kind gewohnt hatte und wo seine Schulklasse war. Am zweiten Tag hatten wir mehr Glück: Die Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltung haben den Tag genutzt, um an der Kaimauer zu fischen, und wir konnten dann auch in den Gebäuden filmen. Das war ziemlich abenteuerlich, denn in den Straßen lagen meterhoch Holztrümmer, die aus den Häusern herausgespült wurden, da viele Taifune die Insel zerstört hatten. Die Betonschutzmauer, die die Insel umschließt, wurde damals nur mit Hilfe von Spendengeldern durch die NGO instand gehalten. Einer der meterhohen Schuttberge, über die wir kletterten, war das alte Kino. Hashima war eine reine Fußgängerinsel, voller Treppen und kleiner Gassen. Irgendwann kamen wir in die ehemalige Bar, in der noch Bierkästen und verstaubte Flaschen herumstanden, und in die Wohnungen der ersten Etage, in denen zum Teil noch Möbel wie eine Musiktruhe standen und Zeitungsausschnitte von japanischen Schlagersängern der 1970er Jahre an den Papierschiebewänden klebten, die alle Taifune überstanden hatten. Herr Sakamoto fand im ehemaligen Lehrerzimmer der Schule sogar sein Englischheft aus der Schulzeit und sagte uns, es sei schon seltsam, aber nicht viele Menschen könnten wie er nochmal an die Orte der Vergangenheit reisen, die wie hier einfach konserviert wurde. Daher wollte er Gunkanjima auch unbedingt als Kulturerbe erhalten, ähnlich wie die Zechen in Westdeutschland. Die Anerkennung zum Kulturerbe würde aber auch beinhalten, die dunkle Seite der Geschichte der Insel aufzuarbeiten. Im zweiten Weltkrieg mussten dort unter anderem koreanische und chinesische Kriegsgefangene Zwangsarbeit leisten. Seit 2015 ist Gunkanjima UNESCO-Welterbe.
In dem Film „Spelling Dystopia“ verbinden sich dokumentarische Elemente mit erfundenen Geschichten auf eine Weise, die es den Betrachter*innen nicht leicht macht, die Übergänge vom einen zum anderen auszumachen. Meist sind sie zugleich sehr fasziniert von dem Ort und irritiert von den verschiedenen Erzählsträngen, die sich hier miteinander verflechten. Was interessiert Euch an dieser besonderen Mischung aus Dokumentation und Fiktion und was hat das mit dem Titel der Arbeit zu tun?
NF/ MS: Wir haben in dem Film zwei Erzählebenen verwebt. Eine Geschichte ist real: Es ist die Geschichte von Herrn Sakamoto, der für die NGO arbeitete, und als Kind auf Hashima aufwuchs. Sein Vater arbeitete im Kohleabbau und er selbst lebte bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr auf der Insel. Er ging dort in die Grundschule, in der wir gefilmt haben, und berichtete davon, wie die Kleinen immer Angst vor den Größeren hatten und wie das alltägliche Leben auf der Insel so verlief. Die zweite Geschichte ist die Nacherzählung des Films „Battle Royal“, vorgetragen von einem Schulmädchen, das in „Spelling Dystopia“ mitspielt. „Battle Royal“ mit Takeshi Kitano in der Rolle eines Lehrers war 2000 ein Blockbuster in Asien, und wurde vor allem von Highschool-Schüler*innen geschaut. Darin geht es darum, dass eine Schulklasse gekidnappt und auf die Insel verschleppt wird. Drehort ist Gunkanjima, und somit sind es dieselben Orte, über die Herr Sakamoto berichtet. Die Aufgabe der Schüler*innen im Film ist es, sich wie in einem klassischen Killerspiel gegenseitig umzubringen und wer übrig bleibt, darf wieder in die Gesellschaft zurückkehren.
Diese beiden Narrative haben uns interessiert, da wir während unserer Lehre an der Sapporo Universität festgestellt haben, dass viele der Studierenden die wahre Geschichte der Insel gar nicht kannten, sondern nur die Filme und Videospiele und Mangas, die auf der „Geisterinsel“ Gunkanjima angesiedelt sind. Die reale Geschichte war also bereits durch das Medienwissen „verschüttet“. Die kollektive Erinnerung an bestimmte Orte verändert sich ja mit jeder neuen Generation. Das war für uns symptomatisch und ein Anlass, uns mit diesem Phänomen auseinanderzusetzten. Wir sind der Meinung, dass es wichtig ist, Erinnerungen immer wieder in jeder neuen Generation neu zu verlinken und einen aktuellen Bezug herzustellen, damit Erinnerung auch lebendig bleiben kann. Das hat sicher auch mit der eigenen kollektiven Erinnerung in Deutschland zu tun, die ein relevantes Thema ist, das in vielen unserer Arbeiten wiederkehrt. Durch die Verwebung beider Geschichten, der Erinnerung Herrn Sakamotos auf der einen, sowie des nacherzählten Films der Schülerin auf der anderen Seite, verwischt die Deutung von real und fiktiv, wie auch die Erinnerung selbst sich verändert.
Möchtet Ihr uns zuletzt noch verraten, an welchen Themen Ihr aktuell arbeitet? Worauf können wir uns demnächst freuen?
NF/ MS: Im Moment arbeiten wir an einem Langfilmprojekt. Es geht um unsichtbare Gefahren wie Strahlung, das gegenwärtige Corona-Virus, die Klimakrise und wie wir damit umgehen. Mehr sei noch nicht verraten.