Alexa, welche Erwartungen hast Du?
„Wo soll schließlich das Träumen erlaubt sein, wenn nicht vor Kunstwerken?“, fragte einst der Kunsthistoriker Ernst Gombrich. Das Medium Kunst aktiviert sehr unterschiedliche Erwartungen und verändert den Betrachtenden, indem es diese erfüllt, oder zerstört. Doch wie beeinflusst die Erwartung des Publikums die Wahrnehmung des Kunstwerks?
Seit Jahrhunderten interessieren sich Künstler*innen für die spezielle Art und Weise des Ausdrucks, mit denen ihre Bilder Geschichten erzählen oder der Wirkung ihrer Werke einen materiellen Ausdruck verleihen. Heute geht es ihnen zusätzlich auch darum, mit ihren Werken Erwartungen zu erfüllen, genauer gesagt: Erwartungen an Kunst zu stören, zu aktivieren und zu verändern. Das Interesse von Betrachtenden, eigene und fremde Erwartungen zu reflektieren, rückt heute – auch unter dem Einfluss der sozialen Medien – mehr und mehr in den Mittelpunkt, macht aber auch deutlich wie gleichzeitig abstrakter und ambivalenter Kommunikation geschieht.
Erwartungen kommen dabei so ähnlich ins Spiel wie bei einem fiktiven Gespräch mit dem Sprachassistenten Alexa: „Alexa, welche Erwartungen hast Du?“ Man assoziiert plötzlich Neues zu den Antworten, die man von außen hört, man hört sich selbst dabei zu, wie beim Denken neue Gedanken in Gang gesetzt werden. Tiefer gehende Fragen – auch die bodenlose Frage nach Erwartungen – die man sich selbst stellt oder die einem bei einem Besuch einer Ausstellung ungebremst durch den Kopf schießen, haben eine großen Vorteil: Sie triggern den mentalen Flow unseres Bewusstseins, der bei einem erwartungsvollen Denken von Neuartigem bei Menschen notwendig aufblitzt: Techniken funktionieren; Erwartungen erzeugen Resonanz. Eine Erwartung, wie unbestimmt sie auch sein mag, ist ein Anlass, mit der die in mir entstandene Resonanz zu reflektieren lernt, zwischen Eigenem und Fremden zu unterscheiden.
Das Medium Kunst aktiviert sehr unterschiedliche Erwartungen nach Bildung – Fähigkeiten, die gerade ein eher gebildetes Ausstellungspublikum kennt und schätzt: Kreativität, Originalität, Einzigartigkeit, Intelligenz und geistige Wendigkeit. Oder anders gesagt: Ideen der Gegenwart leben gerade durch die Ungewissheit von Erwartungen, die das Publikum nicht selten spürt ohne sie direkt und explizit artikulieren zu können. Neuartiges zeichnet sich buchstäblich an einem Erwartungshorizont ab. Vor allem sind Erwartungen eines: zukunftsorientiert. Was aber lässt sich aus dieser simplen allgemeinen Einsicht für die nächste, kommende Zukunft schlussfolgern? Und vor allem: Lassen sich Erwartungen in Ausstellungen, die bewusst auf Partizipation setzen, überhaupt „sichtbar“ machen? Wenn ja, wie könnte das aussehen? Erwartungen bringen weder Probleme noch Lösungen zur Sprache aber ohne sie wäre das gemeinsame Leben deutlich spannungsärmer.
Erwartung und Erkenntnis
Im Vergleich zu früheren Zeiten kann man heute die Erwartung als eigenes Medium von Erkenntnis explizit befragen. Etwa: Ist eine Erwartung gegenüber Kunst womöglich so etwas wie die aufgeklärte Form einer zeitgenössischen Voraussage, ein Mantra der Kunst, das sich erfüllt, wenn man es nur intensiv genug betrachtet? Mit dem aktuell in Ausstellungen beliebten Vermittlungsformat wie der Künstlerbegegnung oder dem Künstlergespräch wird sicherlich die bekannte Erwartung bedient, das Leben und die Arbeitsweise des Kunstschaffenden hautnahe, „live“ und damit möglichst authentisch mitzuerleben. Aber verändert sich dabei auch die Selbstreflexion, das Selbstbild eines Publikums?
Zu einer – ausgesprochenen oder unausgesprochenen – Erwartung von gegenwärtigen Kunstbetrachter*innen gehört es, dass Kunst nicht mehr nur noch als Werk sondern vielmehr inzwischen bereits auch als deren Veränderung mitgedacht wird. Aus den Rezipienten sind heute „Partizipienten“ (Anm. 1) geworden, Akteur*innen, die verändern indem sie an der Auseinandersetzung mit Werken teilnehmen.
Die Kommunikation, die eine gelungenes Werk anstößt, verändert ihre Nutzer*innen: sie bricht, zerstört, unterläuft, verunsichert deren Wahrnehmungsbedingungen und verschiebt so die Ansprüche, die wir mit Kunst verbinden. Dieses Problem ist nun nicht neu: So versuchte etwa Marcel Duchamp schon vor ungefähr 100 Jahren herauszufinden, ob es nicht möglicherweise so etwas wie eine Art Nicht-Kunst geben und wie sich diese hochgradige Paradoxie präsentieren lassen könne. In diesem Kontext verhält sich ein Werk, das sich während seiner Rezeption verändert, theoretisch und praktisch wie ein regelrechtes Hybrid – es ist schon als Werkveränderung sichtbar aber schon nicht mehr wie ein traditionelles Kunstwerk denkbar.
Ein erwiderter Blick
Mit anderen Worten: Als Werk im Kunstkontext funktioniert es nicht mehr wie bisher wie ein in sich geschlossenes Kunstwerk, sondern eher als eine unbestimmte Erwartung von Kunst. Interessant ist dabei die Schnittstelle zwischen Werk und Publikum: Je mehr sich das frühere Werk als Fiktion entpuppt, das an mögliche Erwartungen anschließt, desto mehr wird das Publikum gezwungen sich über diese Veränderung mit anderen zu verständigen. Was seit der Moderne galt, gilt heute umso mehr: Je mehr das Publikum heute von Kunst erwartet, desto weniger kann es Kunst nur gedankenlos konsumieren. Von Walter Benjamin stammt eine geradezu intime wie ebenso bestechend überzeugende Definition einer Person, die etwas erwartet: „Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt.“ (Anm. 2)
Einfach und veränderbar
So wie heute die Erdgeschichte und die Menschengeschichte als eine sich wechselseitig beeinflussende, von Menschen gemachte Evolution darstellbar geworden sind, so ist heute der Kunstdiskurs auch als ein Erwartungsgeschehen verhandelbar geworden. Es geht nicht mehr um die relativ alte Frage, ob etwas Kunst sei oder nicht, sondern um die funktional differenzierte Frage, wie sich etwas (z.B. Kunst) systemisch verändert indem die Bedingungen ihrer Rezeption auf Veränderung, Partizipation hin erweitert werden.
Die menschliche Intelligenz, die sich gerade in neuen produktiven Fragestellungen offenbart, wird nicht selten durch Eleganz und Einfachheit reflektiert, mit der sich Kunst als Ausdruck von grundsätzlich Veränderbarem präsentiert. Die grundsätzlich offene Frage an das Medium Kunst bleibt jedoch bestehen: Was erwartet die Kunst von ihrem Publikum, das seinerseits von der Kunst alles erwartet?
(Anm 1.) Nicole Vennemann, „Das Experiment in der zeitgenössischen Kunst. Initiierte Ereignisse als Form der künstlerischen Forschung“, Bielefeld 2018
(Anm. 2) Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. In: W.B., Gesammelte Schriften Bd. I, 2, Ffm. 1974, S. 646