„Als wären wir zum Spaß hier“
Die Ausstellung „Als wären wir zum Spaß hier – Grenzen und Gewalt“ im Marta-Forum präsentiert die (künstlerischen) Ergebnisse eines kreativen Kooperationsprojektes zwischen dem Marta Herford, der Justizvollzugsanstalt Herford und dem Wittenkindshof. Die diakonische Stiftung unterstützt seit über 130 Jahren Menschen mit Behinderung. Warum die Wittekindshofer Geschichte auch eine Geschichte der Gewalt ist, beschreibt der Vorstandssprecher Pfarrer Professor Dr. Dierk Starnitzke.
Blechgeschirr, Fixiergurte, Medikamente und Prügelstöcke aus der historischen Ausstellung der Diakonischen Stiftung Wittekindshof waren 2016 im Marta Herford zu sehen als Fallbeispiele zur „strukturelle Gewalt“ in der Ausstellung „Brutal schön. Gewalt und Gegenwartsdesign“. Der Wittekindshof unterstützt seit über 130 Jahren Menschen mit Behinderung. Aber die Geschichte des Wittekindshofes ist auch eine Geschichte der Gewalt.
Hohes Gewaltrisiko und Gewaltprävention in der Behindertenhilfe
Menschen mit Behinderung bringen Gewalterfahrungen mit – oft im erschreckenden Ausmaß. Sie haben ein überdurchschnittlich hohes Risiko Opfer von Gewalt zu werden, können aber auch selbst Gewalt ausüben – manchmal verursacht durch eine Behinderung oder psychische Beeinträchtigung. Träger der Behindertenhilfe werden zu einem Nährboden für Gewalt, wenn sie nicht Strukturen, Rahmenbedingungen und Haltungen schaffen, die Gewalt verhindern. Heute sind Fachausbildungen, Zusatzqualifikationen und Deeskalationstrainings in vielen Arbeitsbereichen Pflicht für alle Mitarbeitenden. Einzelzimmer und andere Rückzugsräume, individuelle Unterstützung, moderne Therapie und Medizin tragen dazu bei, Gewalt zu verhindern.
Leid und Gewalt ehemaliger Heimkinder
Ein Meilenstein war die wissenschaftliche Aufarbeitung der Wittekindshofer Geschichte. Professor Hans-Walter Schmuhl und Dr. Ulrike Winkler haben das Zitat eines Bewohners als Titel ihrer Studie gewählt: „Als wären wir zur Strafe hier“. Der Mann, der das gesagt hat, ist schon in den 1950er Jahren in ein Säuglingsheim gekommen, war lange als „schwachsinnig und verhaltensauffällig“ abgestempelt und hat sich zu einem Hobbyhistoriker mit exzellenten Kenntnissen über Ritter entwickelt, die er in Kindergärten und Schulen weitergeben hat. Im Wittekindshof hat dieser Mann Schläge und Kahlrasuren erlebt, musste stundenlang putzen, im Garten arbeiten und wurde eingesperrt. Kurz vor seinem Tod 2010 hat er mit den beiden Historiker*innen ein Zeitzeugengespräch geführt. Davor wurde Gewalt lange verschwiegen. Nicht mehr erlebt hat er die öffentliche Anerkennung von Leid und Gewalt durch den Heimkinderfonds, der Menschen, die in der Psychiatrie oder Einrichtungen der Behindertenhilfe Leid und Gewalt erfahren haben, ausgeschlossen hat. Es hat lange gedauert, diese Exklusion im Zeitalter der Inklusion zu beenden. Erst 2017 hat die neue Stiftung Anerkennung und Hilfe ihre Arbeit aufgenommen. Über 300 aktuelle und ehemalige Wittekindshofer Bewohner haben bereits bei dieser Stiftung Anträge gestellt und größtenteils wegen ihrer Gewalterfahrungen eine – auch finanzielle – Anerkennung bekommen.
Ich habe viele Gespräche geführt mit Politiker*innen, Vertreter*innen von Diakonie und Kirche, aber vor allem mit ehemaligen Heimkindern. Ihre Erfahrungen sind nicht einfach mit einer Geldzahlung wiedergutzumachen. Aber wir können ihnen in Würde begegnen, ihre Lebensgeschichte ernst nehmen und vor allem darauf hinwirken, dass Menschen mit Behinderungen heute keine Gewalt mehr erfahren müssen.
Unerhörte Gewaltopfer darf es nicht geben!
Wichtig ist es, für Gewalt zu sensibilisieren. Opfer dürfen nicht unerhört bleiben. Neben allen Fachkonzepten müssen wir kreative Wege wagen, um Menschen mit Behinderung eine Stimme zugeben und der Gewalt Grenzen zu setzen. Genau das war ein Beweggrund für das Kunst- und Designprojekt „Als wären wir zum Spaß hier – Grenzen und Gewalt“ in Kooperation mit dem Marta Herford und der Justizvollzugsanstalt Herford, in das die Ausstellung im Marta-Forum einen Einblick bietet.
Kommunikation fördern ist auch Gewaltprävention
Viele Menschen, die Angebote des Wittekindshofes nutzen, können nicht mit Worten sprechen und haben trotzdem viel zu sagen. Sprachcomputer geben ihnen eine Stimme. Anderen hilft ‚Leichte Sprache‘, die auf Komplexitätsreduktion basiert und auf lange Sätze und schwere Worte verzichtet. Leichte Sprache ist ein Mittel der Emanzipation. Menschen, die auf Leichte Sprache angewiesen sind, prüfen die Texte. Sie entscheiden selbst und es wird nicht über sie entschieden. Leichte Sprache muss bekannter werden. Gut, dass das Marta Herford bei der Ausstellung Grenzen und Gewalt die Einführungstexte und Werkbeschreibungen in Leichter Sprache veröffentlicht hat.
Das Gegenüber achtsam wahrnehmen
Auch da, wo Technik oder Leichte Sprache nicht weiterhelfen, müssen wir die Sprache der Menschen lernen. Mimik, Gestik und andere Äußerungen sagen auch etwas über Unwohlsein oder Wohlbefinden aus. Gewaltvermeidung fängt damit an, dass ich wahrnehme, welche Wünsche mein Gegenüber hat. Dass die Auseinandersetzung mit den belastenden Seiten des Lebens auch Freude machen und bereichern kann, hat das Kunst- und Designprojekt gezeigt, das nicht umsonst das Motto hatte: „Als wären wir zum Spaß hier.“
Das Eis, das alle Grenzen sprengt, ist eines der Workshopergebnisse, die im Rahmen der Forumsausstellung präsentiert werden. Die Werkbeschreibung ist in Leichter Sprache verfasst: