Ausnahmezustand im Marta-Dom. Sechs un- und außerordentliche Tage mit einer Familie auf Zeit. Ein Erlebnisbericht
Wie fühlt es sich an, ein Kunstwerk zu schaffen und gleichzeitig Teil dieses Kunstwerks zu sein? Cinthia Marcelles zweiteilige Rauminstallation „The Family in Disorder“ wird von der Idee getragen, dass die Gestaltung des zentralen Teils an ein Team aus freien Kunstvermittlerinnen und Arthandlern übertragen wird.
Den Ausgangspunkt bilden zwei Räume mit identisch aufgebauten Materialbarrikaden im Zentrum eines schwarzen Teppichs, die eine aufgeschichtet in einer der kleineren Gehry-Galerien, die zweite in der Mitte des Marta-Doms. Die erste Aufschichtung wird im ursprünglichen Zustand belassen, die zweite der Improvisation, der Gestaltungswut und der Experimentierfreude der eingeladenen sieben Personen überlassen. Als freie Kunstvermittlerin im Team Bildung und Vermittlung nahm ich die Einladung gerne an, als bekennender Homo ludens (lateinisch für „der spielende Mensch“) magisch angezogen von den Möglichkeiten des spielerischen Experiments und der einmaligen Konstellation von Material, Personen und Raum.

Architektonische und andere Herausforderungen
Als hätte der stolze Dom – schwindelerregende 23 Meter hoch und oben nicht mit einer Decke, sondern mit der Glaspyramide des Skylights abschließend, jede Wand mit einer individuellen Krümmung aufwartend – zeitlebens auf diese Aktion gewartet. Die Wände scheinen sich zu freuen: Nehmt die Herausforderung an! Folgt der Fantasie! Arbeitet euch ab, erobert den Raum, vergesst alles Einstudierte, dekonstruiert! Das Werk „The Family in Disorder“, 2018 entstanden, wurde seitdem bereits vier Mal an unterschiedlichen Orten (am Modern Art Oxford, in der Casa do Bandeirante, São Paulo, in der Fondazione Merz, Turin und am Museu d’Art Contemporani de Barcelona) realisiert. Die Idee der Raumbesetzung und der schöpferischen Kraft des Kollektivs ist diesem Werk an allen diesen Orten gemein; doch dieser Raum, eigenwillig geschwungen, bietet mit Sicherheit eine gestalterische Herausforderung, die in ihrer Einzigartigkeit ihresgleichen sucht.
Die Künstlerin Cinthia Marcelle stellt nicht nur die Materialien zur Verfügung, die ihre ganze Arbeit kennzeichnen, sondern übergibt Verantwortung und Vertrauen an ihr bis dahin Unbekannte. Von Vertrauen ist immer wieder die Rede in unserem Vorgespräch mit Marcelle. Sie gewährt persönliche Einblicke in ihre Arbeit, indem sie Fotos aus mehreren Jahren zeigt, die ihre Arbeit geprägt haben: Bilder von Werken anderer Künstler, von politischen Ereignissen, von Landschaften sowie Fotos aus den Medien. Abgesehen von diesen assoziativen Bildern wissen wir zunächst wenig über die konkreten Werke, die in der Marta-Schau zu sehen sein werden und fast nichts über das Kunstwerk, von dem wir Teil sein werden. Wir sollen so unvoreingenommen ans Werk gehen. Auch weitestgehend ungegenständlich, um so viele Interpretationen und Lesarten zuzulassen wie möglich. Ansonsten gibt es von Seiten der Künstlerin nur noch eine feste Vorgabe: Es dürfen keine Werkzeuge genutzt werden.

Die Familie
Marcelles Werk ist so einfach wie vielschichtig, so greifbar wie metaphorisch, ernsthaft und augenzwinkernd zugleich. Schon bei den Titeln ihrer Arbeiten wird diese Polyvalenz sichtbar und zieht sich über die Auswahl und Anordnung der Materialien bis zu immer wieder überraschenden Wirkungen der Werke.
Säuberlich aufgestapelt, lagen vor uns: Holzlatten, Steine, aufgerollte Papier- und Stoffbahnen, Schnürsenkel, Abdeckfolie, Kreidestücke. Alltagsmaterialien, die auf unsere Intervention und Interaktion warteten. Materie und Geist, das Material und die Menschen: „The Family in Disorder“. Der Titel der Arbeit bezieht sich auf das gleichnamige Buch der französischen Psychoanalytikerin Élisabeth Roudinesco, in dem es um die Rolle der Familie in modernen Gesellschaften geht. Wir entleihen dem Buch lediglich den Titel: In unserem Experiment geht es darum, als zusammengewürfelte kleine Gruppe etwas Gemeinsames zu verhandeln, aus dem ordentlich aufgestapelten Materialarsenal unsere ganz eigene Unordnung herauszulocken. Sieben Personen im Dom, dessen Eingänge für Außenstehende mit Folie verschlossen wurden, sind wir nun die ursprüngliche Definition von Gesellschaft: Eine Gruppe von Menschen, vorübergehend auf einen Raum vereint.
Die deutsche Übersetzung des Werktitels, „Eine Familie in Unordnung“, zeigt dabei nur eine von mehreren möglichen Lesarten, bedeutet das englische disorder bzw. das portugiesische desordem neben „Unordnung“ oder „Chaos“ ja auch „Störung“, „Aufruhr“ oder „Verwirrung“ – allesamt passende Beschreibungen für das folgende Geschehen im Dom.

Die Prozesse
Die Materialien in der Barriere vor uns haben im Alltag ihre ganz bestimmte Funktion. In diesem Raum wurden sie all dieser Zwecke entbunden und dadurch zur Quelle von unendlichen Variationen von Formen und Strukturen, begrenzt nur durch die physischen Grenzen des Materials selbst. Wie Kinder nahmen wir Besitz von den Dingen, experimentierten, als sähen wir sie zum ersten Mal: Wie reißt oder zerknüllt Zeitungspapier im Gegensatz zu Packpapier oder Stoff? Welche Konstruktionen sind aus Holzlatten möglich, wenn man weder eine Säge noch Nägel und Schrauben hat? Auf welche verschiedenen Weisen kann man Folienbahnen im Raum verteilen? Was kann man alles in einem Webrahmen verweben? Welche Gebilde kann man aus Klettband oder Tafelkreide erschaffen?
Eine der ersten Fragen, über die wir kollektiv nachdachten, war: Wie kommen wir nach oben? Für eine raumgreifende Installation mussten Materialien an die (fehlende) Decke. Nach mehreren gescheiterten Versuchen bestand die einzige Möglichkeit im Hochwerfen von Spulen mit daran aufgewickelten Schnürsenkeln. An den Schnüren hängengebliebener Spulen wurden schließlich andere Materialien geknotet und hochgezogen. Eine ganz eigene Art von Reviermarkierung.

Eine neue Sprache entsteht
Unsere verbale Kommunikation lief nicht auf Hochtouren. Mitarbeiter, die in den Nebenräumen arbeiteten und uns zwar nicht sehen, aber hören konnten, staunten, dass akustisch nicht viel von uns nach außen drang. Später fanden wir heraus, dass wir während dieser Tage eine eigene Sprache entwickelt hatten: Wir kommunizierten mittels des entstehenden Kunstwerks. Indem jeder der Installation etwas hinzufügte, einen Teil seiner Einfälle, seiner Stimmungen, seines Selbst in Materialgebilde übersetzte, entstand eine Art Gespräch, ein Dialog, der sich buchstäblich im Raum materialisierte. Jede unserer Gesten, so sagte Cinthia Marcelle später, könne man im fertigen Werk entdecken. Wir entwickelten eine Sprache der Gesten: Fragen an das Material und an die Möglichkeiten des Raums wurden gestellt, Antworten folgten durch das Wachsen der Strukturen im Raum, die, aufeinander Bezug nehmend, eine Art kollektiven Bewusstseinsstrom entfalteten. Die Transformation des Materials war gleichsam die Entwicklung unserer neuen Sprache. Am Ende beherrschten wir diese so gut, dass es uns kaum mehr störte, dass wir alle unterschiedliche, manchmal komplett entgegengesetzte Kommunikationstypen sind. Wir reagierten intuitiv aufeinander.
Raumkapsel
Auch entwickelten wir einen eigenen Arbeitsrhythmus, abgekoppelt von den übrigen Arbeiten im Museum. Dies war den blickdicht verschlossenen Eingängen im Marta-Dom geschuldet, womit wir während der Arbeitszeit komplett vom Rest der Welt abgeschnitten waren. Der Dom wurde zu einer Zeit- und Raumkapsel, einem Mikrokosmos, einer Art Ei, in welchem etwas Neues heranreifte. Als die Arbeit am sechsten Tag abgeschlossen war, betrat zuerst das gesamte Museumsteam den Raum, der so sehr zu unserem Raum geworden war. Wir schauten von innen zu, wie die Folie, mit der die Eingänge verhangen waren, Stück für Stück aufriss. Die Eierschale wurde aufgepickt, unser Werk kam zur Welt, die Welt drängte in den Raum.

Jede Begegnung mit Menschen in der Installation „The Family in Disorder“ ist für mich seitdem eine Herzensangelegenheit, jeder Besuch im Marta-Dom wie das Betreten eines vertrauten, eigenen Zimmers. Es gibt sowohl verhaltene als auch sehr kritische, viel öfter aber vom Herzen begeisterte, faszinierte Stimmen. Viele Menschen spüren die Spielfreude, die den Schaffensprozess begleitete. Beim Erzählen über das Werk springt der Funke über, die Augen leuchten. Meiner Meinung nach muss ein gelungenes Kunstwerk genau das können: Die schiere Freude am Schaffen und Gestalten, die jedem Menschen innewohnt, wecken und immer wieder aufs Neue befeuern.
Gute Fahrt
Beim Betreten des Raumes haben junge wie alte Besucher immer wieder ein Bild vor Augen: Die Installation mutet mit dem Geflecht aus Seilen, den von der Decke und den Holzlatten herabhängenden Stoff- und Folienbahnen an wie die Takelage eines Segelschiffs. Ein Motiv, das durchaus mit unserem Entern dieses Raumes, unserem Navigieren durch Unbekanntes, unserem Zueinanderfinden auf räumlich begrenztem Raum, einhergeht. Bei der Eröffnung der Ausstellung „Ungehorsame Werkzeuge“ Anfang April erwähnte Cinthia Marcelle, dass dieser Tag mit der Feier der afro-brasilianischen Meeresgöttin Iemanià zusammenfällt. Iemanià ist eine der zentralen Gottheiten der brasilianischen Umbanda-Religion, die Schutzgöttin der Seefahrer – und, wie ich später herausfinde, auch Beschützerin der Familie. Vielleicht haben wir es also auch Iemanià zu verdanken, dass unser Experiment gelungen war: Die Meeresgöttin schützte sowohl unser Schiff als auch unsere unordentliche Familie auf Zeit.
Über die Autorin:
Linda Pade studierte Europäische Ethnologie, Anglistik und Hispanistik in Münster und Barcelona. Seit Oktober 2021 ist sie freie Kunstvermittlerin im Team Bildung und Vermittlung und realisiert Führungen sowie Workshops für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.