Beichten und Betrachten: Anders denken – Vom Vergleich als Ritual
Es ist nicht alles neu, was man im Alten wiederentdeckt. Wenn man ein anspruchsvolles Format anwenden oder womöglich neu erfinden will, das sowohl hinreichend Lockerheit als möglicherweise auch noch Provokation auslöst, könnte man an das Ritual als Format erinnern.
Heute bestehen Rituale vor allem aus Momenten eines überraschenden Vergleichs, wobei jeder Vergleich an Altes erinnert und dabei gleichzeitig etwas Anderes auf pointierte Weise wie neu erscheinen lässt.
Lockerheit und Provokation entstehen im wechselseitigen Dialog
Ein Beispiel: Früher gingen die Menschen, aus welchen Gründen und mit welchen Hintergedanken auch immer, zur Beichte in die Kirche. Heutzutage gehen Menschen, aus welchen Gründen und mit welchen Hintergedanken auch immer, zum Betrachten ins Museum. So übertrieben dieser Vergleichen auf den ersten Blick erscheint, so sinnvoll lässt er sich heute konstruieren und dabei eine Gemeinsamkeit in den Vordergrund treten. In beiden Fällen geht es auf eine unterhaltsame Weise um die Bewältigung von Realität.
Lockerheit und Provokation entstehen im wechselseitigen Dialog und erzeugen so fühlbar einen frischen Wind im eigenen Wahrnehmen. Wer möchte denn noch fremden Ideen nachlaufen? Sie auch nicht, oder?!
„Haltung entwickeln“ heißt ehrlich mit sich selbst umzugehen
Ideen, Waren, Neuheiten: Alles was heute an das Publikum, die Kunden gebracht wird, wird und wirkt mittlerweile stark inszeniert: bitte nicht zu kompliziert, möglichst locker und gerne authentisch, selbstbewusst und ja, wenn es sein muss, auch etwas ironisch-provokant. Was eignet sich dafür besser als die Anwendung eigener Kreativität? Kreativ bleibt oder wird man, indem man sich selbst in den Dienst einer Sache stellt und (zunächst) möglichst wenig an den Marktwert seiner jeweiligen Ideen denkt. Über die Güte seiner Arbeit entscheidet sowieso nicht nur der Markt, sondern letztlich auch das Gefühl, das man zu seiner eigenen Lebensleistung entwickelt. „Haltung entwickeln“ heißt ehrlich mit sich selbst umzugehen.
Nicht alles ist in der der Realität so großartig wie man es sich einmal erträumt hatte. Und nicht alles so durchschnittlich wie das, was man selbst in die Welt gesetzt hat. Zurück zur Beichte und zum Betrachten: Im ersten Fall ging es um das Eingeständnis einer Schuld, im zweiten um die Lust, sich irritieren zu lassen. In beiden Fällen handelt es sich um ein vergleichbares Ritual: den Prozess des Beichtens, die Performance, die ein Betrachten auslösen kann. Und in beiden Fällen geht es um ein allgemeines Phänomen der Moderne – um die Entlastung von unserer schnellen Gegenwart, in der Freiheit und Leistung, alte Moral und neue Lust, Schulden und Risiken immer näher beieinander liegen. Rituale geben Sicherheit, erhöhen die Achtsamkeit gegenüber Veränderungen, die längst eingetreten sind – auch und gerade dann, wenn wie heute die alten Sicherheiten (etwa unser Glaube an die Zukunft) längst durch die neuen Techniken (der digitalen Kontrollen) ersetzt worden sind.
Ferment des Denkens
Ein Vergleich ist so etwas wie ein virtuoses Ferment des (eigenen) Denkens. Die Fähigkeit und das Talent, etwas mit etwas anderem – ob passend oder unpassend – in einen Vergleichszusammenhang zu stellen, setzt einen Prozess des Unterscheidens und Schlussfolgerns in Gang. Dabei gilt die Faustregel: Eine produktive Unterscheidung (wie etwa oben zwischen „Betrachten und Beichten“) erzeugt mehr als die bloße Summe ihrer möglichen gemeinsamen Ähnlichkeiten. Sie irritiert, indem sie im besten Fall das Eigene des eigenen Denkens steigert und so ihre lesenden Betrachter zur Mitarbeit animiert.