Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Prägende Erinnerungen sind meist solche, die mit besonderen – nicht selten auch lebensverändernden Ereignissen einhergehen. Dabei kann es sich sowohl um positive als auch negative Ereignisse handeln und sich das Erinnern dementsprechend freudig oder schmerzvoll gestalten.
Vergessen erscheint in Anbetracht dieser Tatsache häufig als die simplere Alternative. In der Kunst nehmen die Gegenspieler „Erinnern“ und „Vergessen“ eine zentrale Rolle ein und werden auf vielfältige Weise hinterfragt und kontrastiert.
Die Ausstellung „Zwischen Zonen“, die noch bis zum 24.09. im Marta zu sehen ist, versammelt neun Künstlerinnen die aus dem arabisch-persischen Raum stammen und heute teilweise nach Europa und in die USA emigriert sind. Verbindendes Motiv ist der Zustand des Transits: Die Künstlerinnen erkunden mit ihren multimedialen Werken die Rolle der Globalisierung, komplexe Machtverschiebungen und den damit einhergehenden kulturellen Wandel ebenso wie ihre eigene Stellung als Frauen und die Möglichkeiten zur ästhetischen Entfaltung. Physische umkämpfte Zonen und Grenzen finden in ihren Werken ebenso Ausdruck wie abstrakte Kampfzonen um Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft. Ihre Biografien, in denen sich diese unterschiedlichen Konflikte wiederfinden, halten Einzug in ihr künstlerisches Schaffen und verweisen auch auf kollektive traumatische Erinnerungen, die tief in der Gesellschaft verwurzelt sind.
Kollektive Erinnerungen
Der Kunsthistoriker Aby Warburg und der Soziologe Maurice Halbwachs entwickelten fast zeitgleich in den 1920er Jahren zwei Theorien eines „kollektives Gedächtnis“. Sie wenden sich gemeinsam von einem biologischen, vererbbaren „Rassengedächtnis“ ab und sehen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe über Kultur und der damit verbunden Sozialisierung und Überlieferung von Wissen. Das kollektive Gedächtnis schafft so – über Erlernen und Weitergeben – eine Kontinuität und steuert „im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben“ (Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität). In diesem kollektiven Gedächtnis werden alle prägenden Ereignisse abgespeichert und über Generationen hinweg überliefert und bewahrt. So wird verhindert, dass es zum Vergessen kommt. Die Verwebung von individuellen Ereignissen zum kollektiven Gedächtnis findet dabei in der Kunst unterschiedliche Ausdrucksformen. In der Ausstellung „Zwischen Zonen“ zeigen drei Künstlerinnen dabei die schwierige Gratwanderung zwischen Erinnern und Vergessen auf.
Kunst gegen das Vergessen
Die Künstlerin Lamina Joreige wurde 1972 im Libanon geboren und lebt und arbeitet heute in Beirut. Als Filmemacherin und Künstlerin beschäftigt sie sich – ausgehend von gefundenem Material, dass sie mit fiktiven Elementen verbindet – mit ihrer persönlichen Lebensgeschichte und dem Stellenwert von kollektiven Erinnerungen in der Gesellschaft.

An dem ausgestellten Projekt „Objects of War“ arbeitet Lamina Joreige seit 1999. Dafür bittet sie Menschen ihres Heimatlandes einen Gegenstand zu wählen, mit dem sie eine persönliche Erinnerung an den Krieg im Libanon verbinden, den sie selbst ab 1975 als Kind miterlebte und dessen Auswirkungen heute noch spürbar sind. In Interviews mit den BesitzerInnen hält sie die persönlichen Geschichten zu den Gegenständen fest und macht so die Kriegstraumata sichtbar, die tief in die Gesellschaft eingebrannt sind. In der Ausstellung werden einige dieser gesammelten Objekte, wie etwa ein Kerzenständer oder eine Schlüsselbund, in Schaukästen präsentiert und die dazugehörigen Interviewsequenzen als Videos gezeigt.
Der retrospektive Charakter von Erinnerungen wird in Lamina Joreiges Vorgehensweise deutlich, vergangene Erlebnisse werden mittels eines physischen Gegenstands in die Gegenwart transportiert. Das Projekt „Objects of War“ zeigt dabei, dass es unmöglich ist, eine singuläre Geschichte des Krieges zu erzählen, sondern dass sich im kollektiven Gedächtnis unzählige Einzelstimme miteinander verbinden. Wie tief die Traumatisierung, ausgelöst durch die anhaltenden Konflikte, die Gesellschaft im Libanon seit Jahrzehnten prägt, lässt sich aus den Gesprächen erahnen, die die Künstlerin mit den Beteiligten führte.
Kunst um nicht zu Vergessen
Auch Amina Menia, geboren 1976 in Algiers, befasst sich in ihrer Werkgruppe „Lost Qibla“ mit Erinnerungen an ein kollektives Trauma, den „unsichtbaren Krieg“ des islamischen Terrors in Algerien. In den 1990er Jahren wurden zehntausende Menschen Opfer des Bürgerkriegs, an die heute nur noch versteckte Spuren im öffentlichen Raum erinnern. Ausgangspunkt der Recherchen der Künstlerin ist das Aufspüren dieser Spuren, die sie als „Narben“ bezeichnet.

Mithilfe einer topografischen Analyse und Fotografien des bekannten Friedhofs „El Kettar“ in Algiers verfolgt die Künstlerin, wie in den 1990er Jahren die vielen Todesopfer zwischen den bereits vorhanden Gräbern beigesetzt wurden. Die Ausrichtung der Gräber nach Mekka, die im Islam festgelegt ist, wurde dabei vielfach missachtet und lässt die chaotischen Zustände während der Bürgerkriegsjahre erahnen. Dicht gedrängt sind die verwitterten Grabsteine physischen Spuren des Krieges, die langsam von der Natur überwuchert werden. Wie die Grabsteine, so drohte auch die Erinnerung aus diese Zeit aus dem kollektiven Gedächtnis zu verschwinden. Mit ihrem Projekt hat Amina Menia einen Weg gefunden, eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen und das nachklingende Trauma sichtbar zu machen, das bis heute doch merklich den Alltag im Algerien prägt.
Kunst, die Erinnerungen schafft
Ala Younis, geboren in Kuweit City, lebt und arbeitet heute in Beirut. Die Künstlerin geht in ihren Recherchen der Formenvielfalt individueller, kollektiver und selbst bewusster Beschaffenheit von Macht nach. Dabei beobachtete sie, dass diese Machtdemonstrationen wie zufällig zustande kommende Performances wirken, wenn man sich retrospektiv Fotografien der Begebenheiten anschaut. Sie wirken für die Künstlerin wie einstudiert und aufgeführt, was ihr den Blick auf politische Ereignisse erträglich macht.

Im ausgestellten Projekt mit dem Titel „Enactment“ sehen die BesucherInnen im Marta Herford daraus eine Auswahl, beispielsweise ein Cover des Journals „El Hadaf“ von 1969, in dem zwei Kämpfer ins Leere springen und mit ihren synchronen Bewegungen eine Form bilden. Daneben findet man eine Fotografie von Sportlern, die 1974 einen Sprung über die Berliner Mauer vortäuschen und eine ähnliche Haltung wie die beiden Kämpfer aufweisen. Ala Younis beobachtete mit dem Projekt, wie Körper im Kollektiv funktionieren und Macht demonstrieren. Dabei bringt sie verschiedene Ereignisse der Geschichte über dieses performative Handeln miteinander in Verbindung und findet so einen Weg die Erinnerung an diese Machtdemonstrationen auszuhalten. Dieser Weg gegen das Vergessen geht von Körpern, die von politischen Kräften zum Handeln gezwungen wurden, aus, die eine deformierte, kollektive Bewegung ausführen.
Alle drei Künstlerinnen finden mit ihren Projekten unterschiedliche Ausdrucksmittel und Wege historische Ereignisse in ihrem künstlerischen Schaffen zur Sprache kommen zu lassen. Sie stellen Erinnerungen aus, um dem Vergessen Einhalt zu gebieten.