Das Werkzeug eines Künstlers – Ein Selbstversuch
Um sich in den Schaffensprozess eines Werks hinein zu fühlen, vollzieht Katrin Jeworowski, Praktikantin im kuratorischen Team, in einem Selbstversuch den Perspektivwechsel von der passiven Betrachterin zur aktiven Schöpferin.
„Die Idee wird zu einer Maschine, die die Kunst schafft“, schrieb Sol LeWitt in seinem 1967 erschienen Essay „Paragraphy of Conceptual Art“. Fasziniert von dieser Idee möchte ich Teil eines solchen Prozesses werden. Ein Werkzeug des Künstlers. Zahnrad in seiner Maschine.
Dem Geheimnis des Werks auf der Spur
Fällt mir bei Sol LeWitts „Scribble Drawings“ zuerst die klare Ästhetik und minimalistische Formensprache der Werke auf, so fesseln sie mich umso mehr bei näherer Betrachtung. Fein ziehen sich graue Linien über die weiße Wand, bilden in ihren Ballungspunkten eine deckende, dunkelgraue, metallische Fläche. Die Vorstellung, dass dieser Effekt in tagelanger Kleinstarbeit ausschließlich aus einzelnen Bleistiftstrichen entstanden ist, beeindruckt mich. So eine Arbeit wurde auch im Marta vor Ort geschaffen. Vier Menschen haben ganze 23 Tage Linie um Linie gezogen, um die Wandzeichnung nach Anleitung von LeWitt fertigzustellen, lässt man die tagelange Vorarbeit, die erforderlich war, um den idealen Grund auf der Wand zu schaffen, einmal außer Acht.
Anfangen… aber wie?
Nachdem ich zwei Monate darüber nachgedacht und recherchiert habe, wie ich meine Wandzeichnung am besten umsetzen könnte, fällt es mir schwer überhaupt anzufangen. Mir dämmert allmählich, in welchem Widerspruch diese Blockade zu dem steht, was ich eigentlich tun möchte: Das Erleben ist mir wichtiger als das endgültige Werk. Ich möchte zu einer größeren Maschinerie gehören. Ein kleines Bauteil sein. Ich muss nicht denken. Die Aufgabe hat LeWitt schon übernommen. Also fange ich einfach an.
Erste Schwierigkeiten
Sorgfältig klebe ich einen Teil der Wand meiner eigenen Wohnung ab und spanne die Fäden, die mir als Abgrenzung dienen sollen. Langsam fange ich von außen aus an. Zur Mitte hin nutze ich von Abschnitt zu Abschnitt einen härteren Bleistift. Die erste Linie ist noch sehr zaghaft. Wem widerstrebt es nicht, auf die eigene Wand zu kritzeln. Mit jeder weiteren Linie jedoch entwickle ich ein Gefühl dafür, wie viel Druck es braucht, um eine gleichbleibende Qualität zu erzeugen. Ich muss mich konzentrieren, immer in Bewegung bleiben. Ansonsten entstehen zu dunkle Stellen, die ich nur schwer wieder ausgleichen kann. Dank meiner Recherche weiß ich, dass ich nicht zu lange in einer Bewegung bleiben sollte. Das wäre weniger ein Problem, hätte ich – wie vom Künstler eigentlich festgelegt – noch drei Mitstreiter*innen um ein wenig Abwechslung in die Linien zu bringen. Aber ich bleibe aufmerksam, mache unterschiedliche kreisende Bewegungen auf meiner Wand.
Die Aufmerksamkeit schwindet
Manchmal schweife ich ab, stelle mir vor, jemand könnte mir dabei zugucken. Mittlerweile ist es schon nach Mitternacht und ich stehe einfach nur vor meiner Wand und kritzle immer weiter mit einem Bleistift. Ich schmunzle. Diese kurzen unkonzentrierten Momente kann ich mir nicht erlauben. Ich muss aufpassen. Zu schnell verrutsche ich oder drücke zu fest mit dem Bleistift auf meine Wand. Bereits nach zehn Minuten habe ich gemerkt, wie mein Arm schwer wird. Inzwischen sind aber schon ein paar Stunden vergangen. Die Zeit rast.
Ein Werkzeug des Künstlers
Irgendwann höre ich auf zu denken. Funktioniere einfach. Kaum noch nehme ich meine Hand wahr, die immer weiter Linie um Linie zieht; stehe so nah an der Wand, dass ich außer den feinen Bleistiftstrichen nichts mehr sehe. Die Fläche schließt sich mehr und mehr. Immer wieder ziehe ich den Bleistift über die Wand. Linien berühren sich; verbinden sich zu etwas Größerem. Alles passiert nahezu automatisch. So muss es sein, als Zahnrad in einer Maschine zu funktionieren. Ich lasse den Stift sinken.
Fazit
Langsam trete ich ein paar Schritte zurück und betrachte mein Werk. Was ich sehe, erstaunt mich. So sehr habe ich mich in meiner, mir auch selbst zugeschriebenen Rolle als Werkzeug in der immer gleichen monotonen Bewegung verloren, meinen Blick nur auf einzelne feine Linien konzentriert. Von außen nach innen immer heller werdend, ziehen sich diese nun über meine Wand. Die klare Ästhetik gefällt mir sehr. Ich bin beeindruckt davon, wie man sich selber in dieser Tätigkeit zurücklassen kann. Zum Teil von etwas Größerem wird. Fast schon meditativ. Mein Selbstversuch war schwieriger durchzuführen als erwartet. Aber das Ergebnis begeistert mich und wird mit Sicherheit noch eine ganze Weile an meiner Wand zu sehen bleiben und mich an diese Erfahrung erinnern.