Demokratie ist, wenn ich entscheide!
Demokratie lebt vom Urteil, von der kritischen Instanz einer*s jeden Einzelnen. Sie ist kein ausgepolsterter Kuschelraum mit endlos steigerbarem Wohlfühlfaktor, sondern herausfordernd, anstrengend und abhängig von aktiver Beteiligung. Auch die Kunst agiert hier in einem komplexen Feld voller offener Fragen. Sie darf nicht einschläfern oder ruhigstellen.
Der „Tatort“ am vergangenen Sonntag begann damit, dass ein Mann in einem Wald die zuvor dorthin geschleifte Leiche eines Jugendlichen mit der Axt in Stücke hackt. Wenig später stehen die Ermittelnden in der Pathologie um die einzeln gefundenen Extremitäten mit ihren blutigen Stümpfen. Ein Setting voller expliziter, körperlicher Gewalt, das in den Medienrezensionen zwar als „unappetitlich“ bezeichnet wurde, ansonsten aber zu dem zu gehören scheint, was von einem „realistischen Tatort“ zu erwarten ist.
Alles Theater
In Yael Bartanas hoch emotionalem Video „Inferno“ (2013), das aktuell im Marta Herford auf der größten je hier errichteten Leinwand mit der ganzen Wucht seiner HD-Bilder zu sehen ist, stürzt nach dem heilsversprechenden Einzug der Gläubigen wenig später ein Tempel in sich zusammen. Als sich der Staub verzogen hat, sieht man überall trauernde und offensichtlich tödlich verletzte Menschen, schöne, elegante junge Körper, die nebeneinander auf dem Boden liegen, sich sitzend in den Armen wiegen oder erschüttert auf all die Zerstörung blicken. Doch obwohl man es nach so einer Katastrophe erwarten würde, sieht man keine einzige fleischliche Verletzung dieser Menschen, nur eine sehr dünne rote Flüssigkeit, die mehr an Himbeersaft als an Blut erinnert, rinnt über die Arme oder die Wange einiger am Boden liegender Protagonist*innen. Die theatrale Inszenierung ist offensichtlich, es geht um ein Tableau, ein grandioses Gemälde mit dem Videobild, das symbolisch vielleicht für den Hochmut stehen kann, für die Hybris religiöser Erweckungsbewegungen, für die Vermessenheit, mitten in São Paulo den legendären Dritten Tempel Salomons zu errichten (was tatsächlich geschehen ist, während dessen Zerstörung reine Fiktion ist).
Allein mit den Gefühlen
Dennoch werden wir von den Museumsbesucher*innen nicht nur einmal gefragt, wie wir so grausame Bilder zeigen können. Diese Rückmeldungen auf ein mitreißendes und bewegendes Video, das für andere Teile unseres Publikums der Höhepunkt der ungewöhnlichen Ausstellung „Die Realität … ist absurder als jeder Film“ ist, sprechen ganz grundsätzliche Fragen an: Was erlebt man an dieser Szene als so brutal? Wo liegt der Unterschied zwischen den Kriegsbildern der „Tagesschau“, dem sich anschließenden „Tatort“ oder den nie zuvor so explizit gesehenen Folter- und Gewaltdarstellungen in der gefeierten Fernsehserie „Game of Thrones“ zu diesem Video von Yael Bartana?
Die Erörterung dieser ebenso medientheoretischen wie gesellschaftspolitischen Frage soll hier aber nicht weiter das Thema sein, denn es steht noch eine andere unübersehbar im Raum: Dürfen wir das? Haben wir als Museum das Recht, Museumsbesucher*innen mit etwas zu konfrontieren, was sie möglicherweise erschreckt oder verstört? Oder ist das sogar gerade zumindest EIN Mittel der Kunst jenseits purer Provokation, um ein Anliegen in neu gefundene Bilder zu fassen?
„Die Werke in diesem Raum könnten möglicherweise ihre ethischen oder religiösen Gefühle verletzen“, liest man mittlerweile häufiger auch am Eingang von Museumsräumen. Sind diese meine Gefühle (egal ob religiös, moralisch, ethisch oder sensorisch) eine greifbare Verhandlungsmasse innerhalb einer Demokratie? Kann ich den Anspruch erheben, vor etwas gewarnt zu werden, was rein spekulativ in meiner Gefühlswelt existieren könnte? Und wo sind dann die Grenzen? Wenn ich extremer Arachnophobiker bin, habe ich dann das Recht darauf gewarnt zu werden, dass im folgenden Museumssaal ein Stilleben des 18. Jahrhunderts auch eine große Spinne zeigt?
Auseinandersetzung mit anderen Mitteln
Wir haben uns innerhalb unseres demokratischen Entwicklungsprozesses mit einigen Höhen und entsetzlichen Tiefen auf ein Rechtssystem zubewegt, das seinen Ausgang im nach wie vor für mich großartigen Grundgesetz nimmt und auch hinsichtlich von Jugend- und Persönlichkeitsschutz, Religion und Ethik klare Regeln formuliert. Yael Bartanas Film streift diese Verbotszonen nicht ansatzweise und war deshalb auch zu keinem Zeitpunkt für mich Anlass für Überlegungen hinsichtlich von Zugangsbeschränkungen oder Warnhinweisen. Trotzdem steht die Frage im Raum: Sollten wir individuelle Befindlichkeiten, die sich letztendlich jede*r nach Gutdünken zurechtbasteln kann (im Sinne von: „Ich glaube fest daran, dass der Menschen nicht auf Teppichboden aus naturgewachsenen Fasern laufen darf“), den öffentlichen Raum bestimmen? Ist es demokratisch (oder nicht doch eher das Ende der Demokratie), wenn jedes Einzelinteresse zum Maßstab gesellschaftlicher Umgangsformen werden kann? Ist es nicht gerade das Wesen der Demokratie, dass ich meine individuelle Haltung äußern, engagiert vertreten und dafür Mehrheiten suchen kann, dass aber eben dieses Mehrheitsprinzip (auch in Form von Entscheidungen gewählter Repräsentant*innen) einen Grundpfeiler dieser Demokratie bildet?
Meinungsbildung entsteht auch und vor allem darüber, dass uns Nachrichten, Ereignisse, Erzählungen oder Bilder immer wieder berühren, aufrütteln, aus der Komfortzone herausholen und Stellungnahme einfordern – nicht immer nur mit dem Holzhammer, sondern auch sanft, unterschwellig, verführerisch. Ein fundamentaler Wesenszug der Kunst liegt ja gerade darin, gesellschaftliche oder individuelle Realität in etwas Neues zu übersetzen, zu transformieren, in materielle oder auch kaum greifbare Bilder zu fassen, um sie auf einer ästhetischen Ebene neu verhandelbar zu machen.
Bartanas Videofilm stellt sich mitten in einen hochbrisanten politischen Diskurs von religiösem Fundamentalismus, gesellschaftlichen Umbrüchen und individueller Heilssuche und tut dies mit verführerischen, überwältigenden Bildern und Tönen. Sie nutzt die gleichen Mittel und Mechanismen der Seelenfänger, um ihr Publikum zu locken und ihm zugleich diese Strategien der Verführung offenzulegen. Genau darin liegt die emotionale Wucht der eingangs beschriebenen Szene, in diesem Zerplatzen eines trügerischen Traums, den wir zumindest im dunklen Kinosaal doch so gerne mitgeträumt haben.
Humor und Haltung
Eine letzte Szene zum Schluss: Wenn man die Marta-Ausstellung „Die Realität …“ mit fünf großen Projekten israelischer Künstler*innen betritt, steht man als erstes vor einem Tresen, der an eine Arztpraxis erinnert. Hier wird man von einer freundlichen Empfangsperson gefragt, ob man im Rahmen des Ausstellungsbesuchs Interesse an einer „besonderen Behandlung“ habe, die alles andere als unangenehm sei. Es sei aber dafür nötig, zuvor einen Fragebogen auszufüllen. Hier verstecken sich dann Fragen wie „Wie stark fühlten Sie sich im Verlauf der letzten 4 Wochen durch Schmerzen oder Probleme beim Geschlechtsverkehr beeinträchtigt?“ oder „Wie oft fühlten Sie sich im Verlauf der letzten 2 Wochen durch Gedanken, lieber tot zu sein oder sich Leid zufügen zu wollen, beeinträchtigt?“ mit entsprechenden Ankreuzoptionen.
Nirgendwo wird gesagt oder geschrieben, dass alle Fragen vollständig oder gar wahrheitsgemäß zu beantworten sind, und doch besitzt dieses eigentlich ziemlich zudringliche Formular eine erstaunliche Autorität bei den Besucher*innen. Viele plagen sich mit den übergriffigen Fragen lange ab, und es ist ein bemerkenswerter Entscheidungsprozess, ob man schließlich aufbegehrt, kapituliert, flüchtet oder das Spiel aufgreift und zum Spaß wendet. Hier genau lässt sich im ganz kleinen und dennoch außergewöhnlichem Rahmen demokratische Kompetenz üben, die Bewusstwerdung über die eigene kritische Distanz und Urteilsfähigkeit – bevor es dann in das Märchenreich eines wunderschönen (und auch völlig gewaltfreien) Virtual-Reality-Films von Omer Fast geht – denn dieser Fragebogen bleibt immer in den eigenen Händen und hat keinerlei Bezug zum anschließenden Filmerlebnis. Wenn man das plötzlich erkennt, vielleicht sogar mit breitem Grinsen, dann hat man viel vom dem verstanden, was eine Demokratie von uns erwartet und wie wir sie aktiv gestalten können.
Hinweis:
Das Deutsche Historische Museum hat in Kooperation mit Tanja Praske zur Blogparade Was bedeutet mir die Demokratie? #DHMDemokratie aufgerufen, der wir mit diesem Beitrag sehr gerne gefolgt sind.
4 Replies to “Demokratie ist, wenn ich entscheide!”
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Lieber Herr Nachtigäller,
großartigst und merci für diesen Beitrag zu #DHMDemokratie, der in mir weiterarbeitet.
Kunst „darf nicht einschläfern oder ruhigstellen“. Das setzt das Museum Marta Herford gekonnt um, wie mir scheint. Die Gesichter der Besucher, wenn Ihnen aufgeht, was es mit dem Fragebogen auf sich hat, sähe ich sehr gerne. Spannend der Aspekt „mit dem Gefühl allein“, das setzt Projektionen um oder durch Kunstwerke frei, die für jeden anders sind.
Schon der Beitrag von Bedeutungonline zeigte das eine Demokratie andere Meinungen zulässt, die unangenehm sind, die man aber aushalten muss. Während im Interview von Kulturflüsterin mit dem Schauspieler Nico Strunz herauskommt, dass nicht jeder, jedes Detail mitbestimmen sollte.
Es freut mich außerordentlich, dass Ihr bei der Blogparade dabei seid. Sie vereint schon jetzt Gedankenstränge, die weiterzudenken sind.
Merci nochmals.
Herzlich,
Tanja Praske
Liebe Tanja Praske,
in der Tat ist das immer wieder eine Frage, die im Dialog mit dem Publikum aufgeworfen wird: Geht es nur dann demokratisch zu, wenn es so läuft, wie man es selbst richtig findet? Warum zeigen Museen nicht immer das, was den meisten (aber wer sind die?) am besten gefällt? Warum wird im öffentlichen Raum etwas installiert, woran sich viele Menschen unter Umständen reiben? Warum also kann ich mich nicht an der Museumskasse oder auch beim Bürgermeister über etwas beschweren und dieser „Missstand“ wird dann auch gleich abgestellt?
Die Antwort ist uns wahrscheinlich allen theoretisch völlig klar, aber wenn es direkt um ein eigenes Anliegen geht, sind Frust und Ärger dennoch ganz nah. Wie also vermittelt man glaubwürdig, dass man gehört wurde, dass abgewogen wurde, dass aber entweder mehrheitlich oder von verantwortlicher Seite (Stichwort „repräsentative Demokratie“) dennoch anders entschieden wurde?
Kunst kann, ja muss bisweilen eine Zumutung sein. Darüber lässt sich nicht in der ganzen Breite des Publikums abstimmen. Insofern hat für mich Demokratie immer auch etwas mit Vertrauen zu tun. Oder auf mich und meine Kolleg*innen bezogen: Wird uns innerhalb der demokratischen Legitimation unserer Institutionen das Vertrauen entgegengebracht, für die Dauer unseres Engagements etwas in den öffentlichen Raum zu geben, das anregt, neue Perspektiven eröffnet und produktive Reibungsflächen erzeugt? Und gelingt es uns diese Ernsthaftigkeit des Arbeitens gegen den populistischen Vorwurf der Scharlatanerie zu verteidigen?
Fragen über Fragen … Wir sollten sie nicht aus dem Blick verlieren!
Mit besten Grüßen und Dank für Ihre so wichtige Initiative
Roland Nachtigäller