Denken oder twittern
Der amerikanische Schriftsteller und passionierte Twitterer Gary Shteyngart wurde kürzlich mit dem Satz zitiert: „Wer will schon denken, wenn er twittern kann.“ Kann man twittern, ohne zu denken?
Macht die im Titel formulierte Kontrastierung eigentlich Sinn oder ist sie nicht doch eine etwas billige rhetorische Übertreibung? Wer sich in den sozialen Netzwerken bewegt, dem fällt die Tendenz von AutorInnen auf, mit allen sprachlichen Mitteln Aufmerksamkeit zu generieren. Das Schreiben und Lesen von Tweets hat unterschiedlichste Vor- und Nachteile. Man konsumiert sie schnell und vergisst sie häufig in dem Moment, in dem sie gerade das Bewusstsein passiert haben. Wie denkt man, wenn man während des Denkens twittert oder während des Twitterns denkt?
Beim Schreiben im Netz kann man sich leicht verfangen. Nicht selten verführt es die beteiligten Autoren zu spontanen Einfällen, wobei die Grenzen zwischen schnellem Witz, gezielter Übertreibung und subtiler These immer ungenauer werden. Denkst du noch nach oder postest du anderen schon was vor? Wer twittert oder postet, der will sich sicher auch durch originelle Formulierungen oder frische Ideen selbst überraschen. Doch tendenziell wächst das Risiko, dass der Autor zum Opfer der eigenen, manchmal selbstgefällig daher kommenden Sprachspiele wird.
Öffentliches Schreiben im Netz operiert immer stärker mit Steigerungsformen – sozusagen mit explizit gemachten Übertreibungen. In diesem Kontext muss vor allem auch Peter Sloterdijk genannt werden. Der Titel „Ausgewählte Übertreibungen“, den Sloterdijk für die Publikation einer Auswahl seiner Essays wählte, ist für diesen Autor auch Programm. Nicht wenige seiner Ideenloops und während seines Denkens formulierten Übersprungsassoziationen entstehen durch Techniken aktueller Übersteigerung. 2012 hat dieser Autor in einem vieldeutigen Essay mit dem Titel „Der Heilige und der Hochstapler“ die Energien beschrieben, die der Hochstapler als Figur in der Moderne anwendet, um die Grenzen des aktuell Machbaren zu testen. Der Hochstapler übertreibt, indem er mit Bedacht so tut als ob – und so unmittelbar Möglichkeiten des Neuen und noch Ungedachten kreiert. So tun als ob – hinter dieser alten Formel ästhetischen Zuspitzens, Übertreibens und Täuschens verbergen sich intelligentere Aktivitäten als man auf den ersten Blick ahnt: heucheln, vortäuschen, vorgeben, vorgaukeln, vormachen, vorspiegeln, vorschützen, blenden, bluffen, sich verstellen, den Schein wahren, sich den Anstrich geben, seine Gesinnung verbergen, schauspielern, mimen, markieren, weismachen … .
Etwas zu übertreiben, einen Sachverhalt bis zur Grenze des Paradoxen auf die Spitze zu treiben, verkörpert nicht nur eine zeitgenössische Form der Beschleunigung des Denkens, sondern bietet ihrem Autor vor allem auch Möglichkeiten zur Selbstvergewisserung oder -verunsicherung. Wer übertreibt, der stellt die angebliche Wahrheit einer Sache neu zur Diskussion, macht – eigenes – Denken flexibler. Wäre es also nicht einmal an der Zeit, die vielfältigen Strategien, Muster und Formeln des plötzlichen oder gezielten Übertreibens, mit denen Autoren operieren, in kompakter Weise zu bündeln? „Denken oder twittern? Vom Spielen mit Übertreibungen“. So könnte auch der Titel eines noch nicht erschienenen Buches lauten, der vor allem die Ambivalenzen und neu entstehenden Optionen des Selbstausdrucks thematisieren könnte, die in dieser kommunikativen Praxis zur Erscheinung kommen könnten.
Eine Erzählung von Gegenwart lautet so: Je mehr wir in einer Gesellschaft des Überflusses leben, desto knapper wird die Zeit, in der wir die Fülle gegenwärtiger Möglichkeiten konsumieren können. (Jürgen Kaube, Vorurteile? Sehr nützlich! In: FAS, 13. April 2014; kostenpflichtiger Download hier) Wo endet hier die Übertreibung und wo beginnt ein eigenständiges Zwiegespräch? Heißt übertreiben nicht auch widersprüchliche Perspektiven durchzuspielen? „Man kann nicht nicht kommunizieren“ heißt das berühmte Axiom Paul Watzlawicks. Wer eine Sache nur eigensinnig genug überdreht, der eröffnet sich selbst Spielräume, die auch der mitlesende Leser/User auf eigene Weise weiter nutzen kann. „Wer nicht gespielt hat, verliert, ohne die Chance gehabt zu haben zu gewinnen.“ (Peter Sloterdijk, Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews 1993–2012, Berlin 2015, S. 432; zitatgebendes Interview mit Ulrich Raulff hier.)