Die Leerstelle Lebenszeit – Eine sehr kurze Geschichte der Gegenwart
Wollte man einen etwas ungewöhnlichen rezeptionsästhetisch orientierten Vergleich wagen, könnte man sagen, dass die eigene Lebenszeit so etwas wie eine unbestimmte Leerstelle für uns heute Lebende darstellt.
Eine Intuition, die Niklas Luhmann wohl dazu bewegte, sich in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Frage zu stellen: „Wie wirkt sich die zunehmende gesellschaftliche Differenzierung auf die Struktur des Kunstwerks aus? Welche spezifische Funktion – und dadurch: welche Form – erhält das Kunstwerk“ (vgl. Abb.). Vier Jahrzehnte später erschien dann seine epochale Untersuchung „Die Kunst der Gesellschaft“.

Karteikarte aus Niklas Luhmanns erstem Zettelkasten(1952-1961):
„Kunst und gesellschaftliche Differenzierung. Wie wirkt sich die zunehmende gesellschaftliche Differenzierung auf die Struktur des Kunstwerks aus? Welche spezifische Funktion – und dadurch: welche Form – erhält das Kunstwerk “
Seine Gegenwart erzählen
Wie erzählt man heutzutage seine Gegenwart? Früher gab es Geschichten und Erzählungen, die von einer unbekannten Zukunft handelten. Das biographische Muster lautete für die meisten: Man wurde geboren, arbeitete und starb. Heute ist das Leben, das wir leben selbst Zukunft und zu unserem geistesgegenwärtigen Jetzt geworden. Dieses Lebensmuster hat sich grundlegend beschleunigt und dabei unübersehbar verändert: Man wird geboren, besitzt eine (mehr oder weniger intensiv) nutzbare Lebenszeit und lebt, sich dabei permanent verändernd, weiter: Lebenszeit ist der neue Luxus; man konsumiert weniger die Exklusivität von (Kunst-)Objekten als vielmehr den Modus der Inklusion, den Umgang mit möglichen eigenen (und nicht bloß neuen, veränderten alten) Ideen.
Im Jetzt leben – Klarer machen
Seit der Moderne, aber besonders gegenwärtig, lebt man als ob einem allein der Umgang mit Kunst zur Unsterblichkeit verhelfen könnte. Indem wir im unmittelbaren Jetzt leben, können wir beispielsweise hier lesen, was wir jetzt um einiges anders, reduzierter und klarer machen. Wer so erwartungs- und anspruchsvoll handelt, erfährt seine Gegenwart in Formen von bewusst gemachten Erweiterungen oder Umkehrungen. In jedem Fall kann man ungewohnte Konstellationen von Bildern und Texten erfinden und diese nutzen, um Veränderungen auch für andere kenntlich zu machen.
Während eine Darstellung ein Werk erzählt und performt, verändern sich – vor allem durch Social Media – die Formen und Formate seiner öffentlichen Rezeption. Früher konnte man Neuartiges von Darstellungen einfach im Laufe der Zeit erkennen; heute werden Merksätze, Denkbilder und Erkenntnisprozesse gleichzeitig in Kontexte verwandelt, deren Formen ihrerseits das Publikum zum Mitdenken animieren können. Mittlerweile fragt sich das Publikum zunehmend wie es angesprochen wird und ob es dabei den herrschenden Diskurs der Autor*innen verändern kann.
Funktionen von Kunst – Fiktionen des Publikums
Nie war es schneller möglich beispielsweise einen Vergleich als Erkenntnis in Form einer Unterscheidung zu setzen: Bisher galt Kunst als ewig und exklusiv, heute ist Veränderung unvermeidlich und inklusiv. Nicht immer geht alles, aber etwas geht schon; doch ohne genügend Zeit ist alles nichts. Kunst entsteht nach wie vor immer noch relativ unwahrscheinlich, ist aber deswegen öffentlich nicht unwirksam – im Gegenteil. Indem sich Kunst immer direkter reflexiv an ein Publikum wendet, wird dieses neue Möglichkeiten entdecken, um seinerseits eigene Zugänge zu finden. Die Frage nach den Funktionen von Kunst verwandelt sich dabei heute zunehmend nach der Frage der Effekte von Fiktionen, die ein Publikum reflektieren, glauben, kommentieren oder kritisieren kann.
Kunst ist ein relativer, aber eben kein beliebiger Wert der Gesellschaft – sie wird immer zu etwas, was man jetzt aus ihren Möglichkeiten macht. Jetzt macht man Veränderungen denkbar: Man unterscheidet, ersetzt Bisheriges durch Neues und formuliert, während man lesbar macht, wie es auch noch anders funktionieren könnte. Der aktuelle Wert eines Kunstwerks wird nicht allein nur von der Einmaligkeit des Werks, der Nachfrage des Kunstmarktes und/oder von potenten Sammler*innen oder Kurator*innen bestimmt, sondern ist selbst vom Potential seiner eigenen Veränderbarkeit abhängig.
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Danke