Die Macht der Träume im Surrealismus
Zwei bizarre, tanzende Gestalten in einer kargen Landschaft, am dämmernden Himmel ist deutlich die schmale Sichel des Mondes zu erkennen: Auf dem Gemälde „Personnages surréalistes dansant“ (1939) von Man Ray in der Ausstellung „Im Licht der Nacht“ wirken die beiden Schattenwesen wie aus einem (Alb-)Traum entsprungen.
Die Nacht hat für jeden Menschen eine individuelle Bedeutung: Die meisten finden in diesen Stunden Erholung im Schlaf. Andere wiederum entfalten nachts, von Stille und Dunkelheit geborgen, eine ungeahnte Kreativität. Bereits Surrealist*innen wie Max Ernst, René Magritte, Salvador Dalí oder auch Man Ray bewerteten die Nacht als eine Befreiung von Zwängen. Sie galt ihnen als Antrieb, um das menschliche Unbewusste hervorzukehren und um eine Brücke in die Welt der Träume zu schlagen.
Surrealistisches Manifest (1924)
Das Traumhafte und die Sichtbarwerdung des menschlichen Unbewussten sind somit wichtige Bestandteile der surrealistischen Bewegung, deren Gründungsmitglieder und anhängende Künstler*innen teilweise Zeug*innen der Ersten Weltkriegsgräuel waren. Mit dieser revolutionären Weltauffassung wollten sie den traditionellen Zügen der Bourgeoisie etwas entgegensetzen. Dass der Österreicher Sigmund Freud um die Jahrhundertwende die Psychoanalyse begründete und sich in seinen Forschungen intensiv mit Traumdeutungen beschäftigte, sollte ebenfalls im Schaffen der Surrealist*innen eine wesentliche Rolle spielen.
Dies lässt sich auch in André Bretons 1924 verfasstem Surrealistischen Manifest erkennen, mit dem der Künstlergruppe eine Stoßrichtung vorgegeben wurde: „Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.“
Zwischen Rausch, Traum- und Schlafphasen
Im Mittelpunkt der antibürgerlichen Lebenshaltung der Surrealist*innen stand die Inspiration durch das Fantastische, Irrationale und durch Träume/Albträume: Das menschliche Unbewusste sollte im Idealfall in einen automatischen und freien Schaffensprozess gelangen, was oftmals durch Rauschmittel oder bewusste Traum- und Schlafphasen gelingen konnte. Dazu gehörte auch das Aufschreiben von Traumfetzen, die Hypnose, das automatische Schreiben oder Zeichnen. Durch eine bewusste Verfremdung, der Kombination von unrealen Dingen und Zuständen, sollte innerhalb von Malerei, Fotografie, Skulptur oder Literatur die Wirklichkeit übersteigert werden – ganz im Wortsinne des „Surrealismus“.
Automatisches Schreiben
Bereits 1889 hatte Pierre Janet, Psychotherapeut und Zeitgenosse von Sigmund Freud, Versuche unternommen, Patient*innen im Halbschlaf in Trance oder in Hypnose schreiben zu lassen. Hierbei sollten ihre Ängste und Begierden Form annehmen und Erinnerungen wachgerufen werden. Das Verfahren des Automatischen Schreibens (Écriture automatique) wurde in den 1920er Jahren von André Breton wiederentdeckt und für die surrealistische Bewegung aufgegriffen, um die Wahrnehmung der äußeren Umgebung abzuschalten und die Kraft der Imagination freizusetzen. Bei diesem Schreibprozess sollten in rascher Folge einzelne Wörter mit Verzicht auf Interpunktions- oder Grammatikregeln aneinandergereiht werden können. In einer Art Sprunghaftigkeit sollte so die*der Schreibende in eine Trance versetzt werden.
Die Kunst des Schlafens
Die Idee, die Schlaf- und Traumphasen als Inspirationsquelle zu nutzen, erinnert mich an den französischen Schlafkünstler Virgile Novarina, der 2017 buchstäblich die Eröffnung von „Die innere Haut – Kunst und Scham“ verschlafen hatte. Mit seiner antrainierten Methode schaffte er es während des Schlafes in kurze Wachphasen zu wechseln. Die Wahrnehmungen aus diesen Phasen notierte er sich im Halbschlaf auf bereitliegenden Zetteln. Am nächsten Tag wurden diese Wortfetzen oder auch Zeichnungen von ihm im wachen, klaren Zustand erneut und leserlich notiert.
Genügend Raum für das Unbewusste?
Die Gabe, den nächtlichen Traum als Inspirationsquelle zu nutzen, ist meiner Meinung nach nicht nur einer der spannendsten Ansätze der Surrealist*innen, sondern hatte mich auch bei Virgile Novarinas damaliger Performance beeindruckt. Allerdings stellt sich in unserer 24-Stunden-Gesellschaft die Frage, ob und wie dies heutzutage gelingen könnte? Gibt es in einer Welt, in der wir getrieben sind von ständiger Erreichbarkeit, Reizüberflutungen und Schlafmangel genügend Raum für unser menschliches Unbewusstsein? „Es sind eher selbstgewollte Träume, in denen nichts so vage ist wie die Gefühle, die man hat, wenn man sich in den Schlaf flüchtet. Träume, die nicht einschläfern, sondern aufwecken wollen“, äußerte sich einst René Magritte. Vielleicht sollten wir hin und wieder damit beginnen, auch in der heutigen Zeit unserem Unbewusstsein mehr Raum zu verleihen. Wer weiß, wie sonst solche Werke wie „Personnages surréalistes dansant“ (1939) von Man Ray ausgesehen hätten.