Die Scham vor der Scham
Die Psychologin Kristina Hennig-Fast hat für den begleitenden Essayband zur aktuellen Ausstellung „Die innere Haut“ einen spannenden Aufsatz zu körperlichen Verankerungen der Emotion Scham und deren weitreichender sozialen Bedeutung geschrieben.
Für unseren Blog haben wir sie gebeten, das Schamgefühl und dessen Entstehung zu erläutern. Zudem hat sie uns einen Einblick in ihren Arbeitsalltag als Therapeutin gegeben, in dem sie auch immer wieder mit dem Schamgefühl konfrontiert wird.
Welchen Einfluss haben Emotionen auf unser tägliches Tun und Handeln?
Wie bei allen anderen Affekten ist Scham mit spezifischen Körperveränderungen und -zuständen verbunden, die Signalcharakter besitzen und Informationen für Handlungsinitiation oder -hemmung besitzen. Gleichermaßen sind die Art zu sprechen sowie nonverbale Ausdrucksformen wie Mimik, Gestik, Körperhaltung und Bewegung emotionsspezifisch. Emotionen dienen also nicht nur der Selbststeuerung, sondern steuern auch unsere Kommunikation mit Mitmenschen.
Scham im Speziellen dient dem Schutz der Würde des Menschen, sie schützt die Integrität des Selbst und die des Gegenübers. Scham diszipliniert, Scham bewirkt in der Umgebung Akzeptanz, Schamlosigkeit bewirkt hingegen Ablehnung. Scham kann jedoch auch blockieren und lähmen, handlungsunfähig machen und Flucht auslösen.
Scham ist ja ein Gefühl, dass sich auch körperlich ausdrückt – zum Beispiel durch Erröten – gibt es dafür eine Erklärung?
Bereits Charles Darwin sah die Schamesröte als die Eigentümlichste und Menschlichste aller Emotionsäußerungen an, die meist auf Kopf und Hals konzentriert, also besonders gut für andere Menschen erkennbar, ist (Darwin, 1872, zitiert nach Izard, 1977). Die Schamesröte ist eine Folge physiologischer Reaktionen des vegetativen Nervensystems. Beim Schämen werden die normalen Aktivitäten der Gesichtskapillaren gehemmt, so dass sich die Gefäße mit Blut füllen. Weitere typische Anzeichen für Scham ist das Verlegenheitslächeln, welches sich physiologisch gut vom richtigen Lachen abgrenzen lässt. Lächeln gilt als typischer Ausdruck von Peinlichkeits- und Schamgefühlen und kann als Identitätsunsicherheit interpretiert werden. Aber auch ein erhöhter Puls, vermehrtes Schwitzen, ein „Kloß-im-Hals-Gefühl“, Herzklopfen und die Unterbrechung des Blickkontaktes sind typische Begleiterscheinungen des Schamgefühls.
Das Erröten selbst ist gleichzeitig aber auch die Ursache für weiteres Schamerleben (Teufelskreis der Scham). Es lenkt die Aufmerksamkeit anderer auf die eigene Verlegenheit, so dass die Scham, die man bereits empfindet, nochmals verstärkt wird. Wenn man sich schämt, möchte man sich verbergen, sich den Blicken anderer entziehen, im Erdboden versinken oder sich am liebsten in Luft auflösen. Das Erröten bewirkt das genaue Gegenteil: Man wird noch besser gesehen. Dieses Paradoxon führt zu dem regulativen Effekt von Scham, und dazu, möglichst schamauslösenden Situationen zu vermeiden.

In welchen Situationen begegnet einer Psychologin das Schamgefühl im Arbeitsalltag?
Als Psychologin ist man mannigfaltig diesem Gefühl ausgesetzt, der Scham des Patienten als Gegenüber, der eigenen Selbstscham und der Scham ausgelöst durch die Scham des Gegenübers.
Scham kommt in vielen therapeutischen Situationen vor, wird jedoch nicht immer explizit ausgesprochen, sondern kommt oft auch nur implizit in der therapeutischen Situation zum Tragen. Scham kann dann ansteckend sein, es kann auch die eigene Schamgrenze durch Scham eines Gegenübers angegriffen werden. Ein Psychotherapeut sollte sich dessen gewahr sein und sich mit den eigenen Schamgefühlen befasst haben. Das therapeutische Setting selbst kann schamauslösend sein, kann aber auch der Auflösung von Scham dienen.
Oftmals tritt auch eine gemeinsame Schamvermeidung von Psychotherapeuten und Patienten auf, da ein Schamgefühl sehr intensiv bis schmerzhaft sein kann und es unbewusst gemeinsam vermieden wird. In diesem Fall kann es zu einer maladaptiven (unangepassten) Symptomaufrechterhaltung kommen. Schamvermeidung kann allerdings im therapeutischen Prozess auch zunächst im Rahmen von Stabilisierung angestrebt sein, um den Patienten z.B. vor einer Retraumatisierung durch zu intensive Schamgefühle zu schützen.
Auch das Fremdschämen ist ein Gefühl, das sicher jeder Psychologe aus verschiedenen Perspektiven gut kennt (Schämen für Vorgesetzte, Kollegen), da Fremdschämen im Alltag häufig auftritt. Die Schamlust ist zudem ein assoziiertes Gefühl, welches der Scham selbst innewohnen kann, vor allem im erotischen Bereich wird dies oft in der Literatur beschrieben und kann entsprechend auch von Patienten artikuliert werden. Schließlich gibt es noch das Beschämen, welches im therapeutischen Prozess unbeabsichtigt durch Therapeuten bei Patienten erfolgen kann, aber auch im Umkehrprozess manchmal durch Patienten bei Therapeuten ausgelöst wird, ein Prozess, welcher in der Psychoanalyse als Übertragung und Gegenübertragung bezeichnet wird, in der Verhaltenstherapie als Interaktionsanalyse. Wird Beschämen wirksam, wird ein Ungleichgewicht in der Machtverteilung deutlich, es kann der Abwertung des anderen und der eigenen Aufwertung dienen.
Voraussetzung für die Arbeit mit Patienten ist das Wissen um die Existenz dieser Prozesse und das Verfügen über kompetente Strategien im Umgang mit diesen Prozessen.
Welche Rolle spielt das Schamgefühl genau bei Patienten?
Bei Patienten weicht das Schamgefühl oftmals von dem gesunden Schamgefühl in Intensität, Häufigkeit und hinsichtlich der Auslösesituationen ab. Auf der einen Seite kann das Gefühl übermäßig intensiv und häufig auftreten, so dass Betroffene geradezu vor Scham erstarren, handlungsunfähig werden. Dies ist dann oftmals an einen sehr niedrigen Selbstwert und ein geringes Selbstwirksamkeitsgefühl gekoppelt. Bei Depressionen, Angststörungen sowie auch bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung und der Posttraumatischen Belastungsstörung finden wir diese Ausprägung von Scham häufig.
Die Patienten würden sich am liebsten vor den Blicken anderer verstecken, können es oftmals auch selbst nicht aushalten, sie anzusehen. Maskierende Gefühle sind oft Angst, Traurigkeit, Autoaggression und Selbsthass. Scham führt zur Aufrechterhaltung von klinischen Symptomen, da Scham als Gefühl eher vermieden wird und somit schamauslösende Situationen nur geringfügig verändert oder bearbeitet werden.
Auf der anderen Seite kann Scham wenig bis gar nicht oder in nur geringer Intensität auftreten, in diesen Fällen führt dies zur Schamlosigkeit, wie es z.B. bei antisozialen Persönlichkeitsstörungen oder auch in manischen Phasen bei affektiven bipolaren Störungen der Fall sein kann.
Manchmal ist z.B. Promiskuität (sexueller Kontakt mit häufig wechselnden Geschlechtspartnern) als Form der Schamlosigkeit zu beobachten, die aber z.B. bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung auch als Selbstschädigung verstanden werden kann, und in diesen Fällen kann die Schamlosigkeit wiederum Scham auslösend wirken
In welchem Verhältnis stehen Scham und Schuld zueinander?
Scham und Schuld können als verwandte moralische und selbst-bewusste (engl. self-conscious) Emotionen verstanden werden, die einige Überlappungen in Verhalten und Symptomen aufweisen können. Beide kommen in der biblischen Schöpfungsgeschichte von Adam und Eva vor (schuldig von der verbotenen Frucht gegessen zu haben; Scham für das durch die Individualisierung entstandene Gefühl der Nacktheit). Beides sind selbst- und handlungsregulierende Gefühle.
Schamgefühle sind schwieriger zu ertragen als Schuldgefühle. Sie sind stärker an die Person, ihr Wesen gebunden, während Schuldgefühle stärker an Handlungen gebunden sind. Die Schamfrage lautet entsprechend: Wie konnte ich das nur tun?, die Schuldfrage lautet: Wie konnte ich das nur tun?
Schamgefühle werden durch mehr Öffentlichkeit verstärkt, Schuldgefühle benötigen keinen anderen. Schamgefühle bewirken meist ein negatives Selbstbild und es gibt keine Kontroll- oder Ausweichmöglichkeiten, während Schuldgefühle eingrenzbar sind und Handlungsalternativen existieren. Das Gegenteil von Scham ist Stolz, das Gegenteil von Schuld ist Unschuld. Schamgefühle sind unangenehm, Schuldgefühle können belastend und entlastend sein. Es gibt Kollektivschuld, jedoch weniger Kollektivscham. Beide Gefühle unterliegen kulturell unterschiedlichen Prägungen.

Wie kann die Psychotherapie helfen, die Scham vor der Scham abzulegen?
Scham betrifft das Gesehen werden, weniger das Gehört werden, wie es bei der Emotion Schuld der Fall ist. Davon sind unmittelbar die Therapieansätze ableitbar. Verbal ist die Scham nur begrenzt bearbeitbar: Zunächst muss Scham identifiziert und akzeptiert werden, es können Auslöser und bestimmte Schemata der Scham verbal bearbeitet werden. Um die Scham effektiv zu reduzieren, scheinen diese Methoden jedoch nur begrenzt wirksam. Vielmehr sollte mit visueller Wahrnehmung, körper- und erlebnisbezogen gearbeitet werden, um sich der eigenen Scham stellen zu müssen, im Sinne einer Expositionstherapie und der Habituation an das schamauslösende Setting.
Voraussetzung für die Behandlung ist das Verständnis und die Grundhaltung des Psychotherapeuten. Ein Patient, der an pathologischer Scham leidet, braucht nach Gershen Kaufmans (1989) Auffassung eine Art „sicherheitsgebende Beziehung“, die ihm im familiären Kontext bisher gefehlt hat. Für den Therapeuten bedeutet dies, dass er authentisch und ehrlich gegenüber seinen Patienten sein muss. Ein Therapeut, der sich dem Patienten gegenüber als Mensch erfahrbar macht, lädt diesen dazu ein, sich mit ihm zu identifizieren (siehe auch Tisseron, 2000). Für Kaufman schließt sich an diese therapeutische Haltung auch ein „Reparenting“ an, bei dem der Therapeut Distanz und Neutralität zugunsten einer natürlichen und authentischen Haltung aufgibt und dem Patienten eine im Rahmen zuträgliche, elterliche Fürsorge zukommen lässt. Das Selbstwertgefühl des Patienten würde bei einer abstinenten und distanzierten Haltung verletzt und die Gefahr einer Retraumatisierung durch erneutes Schamerleben sei gegeben. Nach Serge Tisseron (2000) sollte der Therapeut zuerst die narzisstischen Kränkungen und Demütigungen seines Patienten anerkennen. Der Psychotherapeut, der dem Patienten bei der Überwindung der Scham helfen soll, muss daher auch fähig sein, dem Patienten zu verordnen, „die Scham vor der Scham“ abzulegen. Denn oftmals ist es die Scham selbst, die den Betroffenen an der Artikulation der Scham hindert. Tisseron (2000) unterstreicht, dass der Psychotherapeut deshalb nicht nur Sensibilität für die Scham haben soll, die sich zeigt, sondern auch für die, die sich nicht zeigt und daher nicht als solche erlebt werden könne.
Hat Scham als Gefühl auch positive Funktionen?
Ja, Scham ist auch eine moralische und sogenannte selbst-bewusste (engl. self-conscious) Emotion. Sie dient innerhalb von sozialen Gemeinschaften der Aufrechterhaltung der Regeln und der moralischen Regulation, sie dient der Wahrnehmung eigener Grenzen und Bedürfnisse und somit der Selbstregulation. Das dies von evolutionärem Vorteil ist, wird klar, wenn wir feststellen, dass Scham auch bei Tieren auftritt und dass Scham möglicherweise schon im sehr frühen Säuglingsalter in frühen Bindungssituationen auftreten kann. Der sehr hohe physiologische Anteil im emotionalen Erleben von Scham weist auch auf die Wichtigkeit für das Überleben einer Spezies oder einer Gemeinschaft hin.
Hinweis:
Herzlichen Dank Kristina Hennig-Fast für die ausführliche Beantwortung der Fragen.