„Dinge, deren Zeit noch nicht gekommen ist“: Die Zukunft als Autorin
Als das Marta Herford im Jahr 2005 eröffnet wurde, sprach die Presse gleich von einem UFO, das in Herford gelandet sei. Dieser schöne Vergleich zwischen einem Bild und einer Zeit, nach dem die Kunst wie ein UFO aus der Zukunft kommend in einer Gegenwart landet, gehört zu den beliebtesten Topoi der Moderne.
So einleuchtend dieses zeitlose Bild auf Anhieb klingt, so offen lässt sich die Zukunft hier als einen jetzt veränderbaren Raum von Gegenwartsoptionen erkennen. Auch wenn diese Form der Darstellung reichlich innovativ klingt, so ist sie als Erkenntnis nicht so neu wie sie auf den ersten Blick scheint.
Rilke und die Kunstwerke
Schon 1903 schrieb Rainer Maria Rilke in seinem kurzen Text unter dem Titel „Kunstwerke“: „ …was die Kunstwerke unterscheidet von allen anderen Dingen, ist der Umstand, dass sie gleichsam zukünftige Dinge sind, deren Zeit noch nicht gekommen ist. Die Zukunft aus der sie stammen ist fern, sie sind die Dinge jenes letzten Jahrhunderts, mit welchem einmal der große Kreis, der Wege und Entwicklungen sich schließt … Das Morgen schon war ein Teil des Weiten und Unbekannten, es lag hinter dem Grab und die Götterbilder waren die Grenzsteine eines Reichs tiefer Erfüllungen. Langsam entfernte sich diese Zukunft von den Menschen. Unsere Instrumente reichen über Morgen und Übermorgen … und machen sie zu einer Art noch nicht begonnener Gegenwart.“ (Rainer Maria Rilke: Werke. Ausgabe in vier Bänden, Ffm 1996, S. 303)
Was Rilke hier – vor nun mehr als hundert Jahren – mit fast religiösem Pathos sprachverliebt zur Darstellung bringt, ist die heute seltsam aktuelle Vorstellung, nach der die spezielle Ferne, die gerade von gelungenen Kunstwerken ausgehen kann und die ebenso merkwürdige Nähe, die das Publikum zu diesen herstellen können, letztlich von der Zeit abhängig ist, in der dieses Geschehen formuliert und wie eine (scheinbare) Innovation präsentiert wird. Heute ist die Idee, dass sich der Wert von Kunst aus der Zukunft kommend erst in der jetzigen Gegenwart zeigt, immerhin ebenso alt wie auch noch aktuell.
Dass die Zeit der Stoff ist, aus dem alles (inklusive unterschiedlich bestimmbarer Zukünfte) machbar wird, gehört offenbar zum unzerstörbaren Ideenmaterial der späten Moderne. In jedem Fall ist die Zeit bzw. die Zukunft der Zeit die große Schwester des Autors, der hier das eigene Denken lernt. Oder mit Bert Brecht gesprochen: „Denken ist etwas, das Schwierigkeiten folgt und dem Handeln vorausgeht.“ (Bert Brecht: Me-Ti. Buch der Wendungen, Ffm 1983, S. 33)
Die Zukunft als Autorin
Dabei erschafft gerade die Zukunft als Autorin im Hintergrund eine jetzt zu entscheidende Option von Möglichkeiten, in jedem Moment unerhört Neues und gleichzeitig etwas jetzt Veränderbares. Es gehört heute zur Technik einer Darstellung, die Form einer Zukunft jeweils buchstäblich geistesgegenwärtig und damit so nahe wie möglich für den Betrachter / Leser darstellbar werden zu lassen.
Hätte Rilke noch das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts miterlebt, so hätte er mit Sicherheit die gnadenlos kalten Einsichten des Systemtheoretikers Niklas Luhmanns mitverfolgt. Dessen in den neunziger Jahren entwickelte Einsichten zur „Temporalisierung von Komplexität“ gelten vor allem auch für die Kunsterfahrung. „Ohne zu schreiben kann man nicht denken.“ (Niklas Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen, Bielefeld 1992). Und ohne in einer Gegenwart zu denken, kann man auch die nächsten möglichen oder unmöglichen Zukünfte nicht angemessen darstellen.
Unter den Bedingungen der heutigen komplexen Zeit sei man zum Vertrauen verdammt hat Peter Sloterdijk einmal formuliert. (Peter Sloterdijk: Ausgewählte Übertreibungen, Ffm 2017, S. 252) Allein die Zukunft ist eine unbekannte Form von Gegenwart, in die man gleichzeitig Vertrauen haben sollte und grundsätzlich kein Vertrauen mehr haben kann. Unter veränderten Vorzeichen wiederholen sich heute so die Dinge und besonders erweiterte Darstellungsweisen, „deren Zeit noch nicht gekommen ist“.