„Das Museum ist der Engel der Geschichte“
Die Gegenwart zwischen Macht und Muse: Was geschieht im Museum mit unserer gegenwärtigen Zeit? Ein ehemalige Marta-Kurator macht sich so seine Gedanken …
Im Museum sind wir, so Boris Groys, alle und in jeder Hinsicht „Comrades of Time“, Zeitgenossen unserer eigenen Zeit. Auch die Zeit ist inzwischen unter einem spezifischen, ausgesprochen mächtigen Label unterwegs – sie heißt heute: Veränderung. Könnte man sich die gegenwärtige Zeit gerade im Museum nicht als listige Aktivistin vorstellen? Eine elegante zeitliche Definition des Museums findet man im Feuilleton einer großen Tageszeitung, sie lautet: „Das Museum ist der Engel der Geschichte: Es blickt zurück und fliegt nach vorne.“ So hellsichtig (aber wohl auch etwas vollmundig) diese Formulierung des F.A.Z.-Redakteurs Kolja Reichert daher kommt, so komplex ist sie in Wahrheit auch. Denn wer den berühmten, inzwischen fast schon zu einer heiligen Botschaft aufgeladenen Text Walter Benjamins „Über den Begriff der Geschichte“, auf den sich Reichert in seinem Zitat direkt bezieht, nicht kennt, weiß mit der Paraphrase nichts anzufangen. Doch sollte seine Definition zutreffen, dann sehen wir die selbstbezügliche Kunst- und Ausstellungswelt plötzlich mit einem erweiterten Blick.
In Wahrheit handeln demnach KünstlerInnen, die, wie es Wolfgang Ullrich vor einiger Zeit treffend formulierte, der Funktion nach Musen ihres eigenen Handelns sind, in höherem Auftrag. „Höhere Wesen befahlen: obere Ecke schwarz malen“ wusste schon Sigmar Polke. Nicht erst heute wissen wir: Nahezu alle Signale der Gegenwart stehen auf Veränderung – so lautet heute das Credo der technischen und digitalen Transformation unserer Gesellschaft, die auch vor Museen nicht Halt macht – im Gegenteil! Das Museum produziert Sinn in einer zunehmend sinnfreien, technisch dominierten Gegenwart.
Benjamins erdachter Engel ist bis ans Ende der Geschichte fliegend unterwegs – die Frage ist allerdings, bis zu welchem Moment er noch steuerbar ist. Benjamin selbst notierte in einer Art Prophezeiung seine Gedanken zur sozialen Aufklärung in zukünftigen Zeiten: „Der Klassenkampf, der einem Historiker, der an Marx geschult ist, immer vor Augen steht, ist ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine feinen und spirituellen gibt. Trotzdem sind diese letzteren im Klassenkampf anders zugegen denn als die Vorstellung einer Beute, die an den Sieger fällt. Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in diesem Kampf lebendig und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück. Sie werden immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage stellen.“ (W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, These IV)
Veränderung in der Gegenwart – die Muse des Museums
Besonders die sozialen Medien ermöglichen ihren NutzernInnen, gerade auch in der auf die Gegenwart reagierenden Museumswelt, einen lebenslang ununterbrochen Strom von Kommunikation. Darin ist vieles (auch aktuelle Ideen zur Kunst) tendenziell einerseits nur Anlass und Trigger für Aufmerksamkeit, andererseits aber auch – wenngleich eher selten – Anlass für die Debatte um das, was Kunst vermag, anregt. Die tückische Aktivistin im Hintergrund ist aber offenbar keine geringere als die Zeit, die als Muse der Macht und damit auch des Museums alle kommenden Veränderungen begleiten und durchsetzen wird. Unser Umgang mit Zeit verrät immer auch etwas von deren kalter, abstrakter sozialer Mächtigkeit: Alle gesellschaftlichen Veränderungen kennen heute immer weniger ein gemeinsames soziales Ziel als einen mehr und mehr individualisierten Prozess. Dieser fordert immer instrumenteller und schneller Neues ein, grenzt aber auch nicht mehr Verwertbares und Unzeitgemäßes immer schneller aus und schiebt es einfach in das Archiv der Vergangenheit ab. Dass der Lauf der Geschichte in Form von zunehmend schnelleren Veränderungen nicht selten über die Menschen hinweg gehen wird, ist eine Erfahrung, der wir uns gegenwärtig nicht unbedingt freiwillig stellen, sondern stellen müssen.
Anders jedoch verhält es sich im Museum: Hier ist buchstäblich alles auf kreative Veränderung und flexible Vermittlung (auch seitens aller MitarbeiterInnen) eingestellt, was aber kritische Selbstbeobachtung und Distanz gegenüber einem zu vorlauten Zeitgeist nicht ausschließen kann. Da sich inzwischen alles verändert, können alle Mitbeteiligten nur selbst steuern, indem sie hellwach und offen, also kritisch auch gegenüber fremden Ansprüchen und eigenen Erwartungen bleiben.
Ebenso wie das Museum ist eine Ausstellung als Medium einer Gegenwart ganz von ihrer eigenen Zeitgenossenschaft durchdrungen: von den Erfahrungen, den verlorenen Utopien und größenwahnsinnigen Visionen ihrer Geschichte erfüllt. Sie kann etwa als opulentes Spektakel einer digitalen Wunderkammer, als Reise durch ein Leben aus Bildern und Ideen, als Erzählung von Meisterwerken, als provokante Auseinandersetzung mit umkämpften Werten der Gesellschaft, als provokanter Tabubruch etc. inszeniert werden. Das Museum und seine Ausstellungen zeigen, wie eine andere, (noch) fremde Sphäre in der existierenden Welt aussehen könnte, indem wir sie plötzlich im Kontext einer neuen künstlich erweiterten und veränderten Umgebung sehen können.
Zwischen Trümmerstätte und Zukunftsstation
„Unsere heutigen Museen sind Maschinen zur Herstellung von Gegenwart mittels der Unterscheidung von alt und neu, identisch und indifferent“, fasste Boris Groys unsere gegenwärtige Situation zusammen. (Topologie der Kunst, Ffm 2003, S. 184). Der Engel der Geschichte starrt weiterhin auf die Trümmer der Vergangenheit – so Walter Benjamins Denkbild aus dem Jahr 1940 – und ist gleichzeitig gezwungen die Zukunft zu meistern. Wer eine Ausstellung betritt, kann deren Welt auch als Trümmerstätte, also als Ort ansehen, an dem einmal einzigartige kreative Prozesse stattgefunden haben, oder als Moment einer kommenden Zeit. Als profanes Ereignis einer Geistesgegenwart, an dem jede und jeder auf seine Weise Erfahrungen machen wird, die ohne die Kunstwelt so nicht möglich wären. Museen erinnern mit ihren Ausstellungen an Orte, in denen Kunst und Kultur mehr sind als „ein Statussymbol, ein Markenprodukt oder ein Tourismusfaktor.“ (Anne-Marie Bonnet, Was ist zeitgenössische Kunst oder Wozu Kunstgeschichte?, Berlin 2017).
Das Museum der Gegenwart ist soziologisch gesprochen die „Institution der Moderne schlechthin“, ein „unverzichtbares Kontrastmittel, mit dem der Mythos des Fortschritts überhaupt anschaulich wurde“, so Walter Grasskamp, und – kunstreligiös formuliert – ein Ort andauernder Erlösung, der zwischen den Polen von Zeitgenossenschaft und Zeitlosigkeit oszilliert (Sonderbare Museumsbesuche, München 2006).