Frage, Format, Fokus: Vom veränderten Zugang von Bildern
Manchmal entsteht aus einer Laune heraus etwas ganz Neues. So stellte im letzten Jahr eine gewisse Marie Sophie Hingst unter dem hashtag #KunstGeschichtealsBrotbelag ein Foto von Toast, Pumpernickel und Bauernbrot, garniert mit Quadraten aus Tomate, Käsestückchen und Marmelade, arrangiert im Stil von Piet Mondrian auf Instagram ins Netz – Kunstgeschichte auf Brot.
Auf diese Idee musste vielleicht jemand kommen, der nicht nur bereits weiß, dass es Food Art gibt, sondern dass man mit schnellem Witz und hellwacher Lust am spielerischen Kommentar zur Gegenwart plötzlich etwas kreiert, was blitzschnell zum Massenphänomen werden kann. Offenbar geht es heutigen User*innen nicht mehr wie einst Andy Warhol um die Frage, wie man ein öffentlicher Star wird, sondern wie man auf intelligente und überraschende Weise Phänomene im Netz entdeckt, die es wert sind entdeckt zu werden – und sei als subtile Persiflage auf ein neues Format von Kunst als Brotbelag.
Smartphone-Nutzer*innen als Künstler*innen?
Die Maßstäbe heutiger privat gemachter öffentlicher Bildrezeption haben sich in den letzten Jahren im direkten Austausch mit den sogenannten „sozialen Medien“ dramatisch zugespitzt. Indem heute alle (öffentlich) zugänglichen Bilder beliebig, variabel, instrumentell verwendbar und potentiell zu einem Anlass kreativer Erweiterung geworden sind, stellt sich die Frage nach der Zugänglichkeit der Macht von Bildern nicht in einer neuen, sondern in einer veränderten, technisch bedingten Weise: Wie verwandelt sich heute die Natur von Kunst indem deren private Rezeption via Instagram und Co. in den Mittelpunkt rückt?
Wahrscheinlich wird in es in Zukunft nicht mehr um die uralte und heute wenig aufregende Frage „Ist das Kunst?“ gehen, sondern um die Erkenntnis, dass jetzt jeder als aktive*r Smartphone-Nutzer*in ein Potenzial in der Hand hält, dass ihn*sie zum*zur Künstler*in zweiter Ordnung machen kann.
Seit mehreren Jahren unternimmt es dabei besonders der Kunst- und Bildtheoretiker Wolfgang Ullrich mit einer fast anarchischen Lust am unkonventionellen Denken, den Kanon und die Werte der traditionsgebundenen Kunst- und Künstlergeschichte durch die alltäglich sichtbaren Objekte des Konsums zu relativieren und ihre historische Verfügbarkeit zu dokumentieren. Eine Anwendung, die Bilder nicht mehr streng kunstwissenschaftlich und maximal tiefsinnig interpretiert, sondern hochgradig kontextuell mit banalen, scheinbar unvergleichbaren Wirklichkeiten wie Konsum- und Designobjekten, Bild gewordenen sozialen Einstellungen oder Werten konfrontiert und dabei buchstäblich oberflächlich vergleicht, ist ein historisch junges Format des Zugangs. Sie fragt nicht nur nach dem Neuen, sondern macht bewusst, dass ältere Weisen der Rezeption durch Aktualisierung von älteren, aber neuen Operationen des Vergleichens von Unterschieden zwischen ähnlichen Bildern (Anm.1) entstehen. Aus der früheren Frage nach der Genese einer historisch neuartigen Qualität von unbestimmten massenhaft reproduzierbaren Bildern (Anm.2) hat sich heute die Frage nach der Entstehung höherer kommunikativer Produktivität durch die eigene kreative Instrumentalisierung von ikonischen, gemeinsam nutzbaren Bildern gebildet.Früher thematisierte man die malerische Natur von Bildern, heute fragt man wie notwendig produktiv, ungewohnt und überraschend ein Fokus sein muss, mit dem man Altes (Traditionen der Kunst) mit Neuem (Fragen an die eigene Form der Wahrnehmung) kombinierten kann.
Kunst als Konsum
Eine Methode lässt sich heute, wenn überhaupt, nicht mehr ohne einen Lebens- und Handlungsbezug entwickeln: Man arbeitet gegenwärtig weniger vor Bildern als dass man sich, in einem Netz von Bildern bewegend, von diesen inspirieren lässt. Eine, die tiefer liegende Probleme nicht verschweigende Wahrnehmung vor und an Bildern, funktioniert dann etwas einfacher (aber auch gleichzeitig raffinierter), wenn der Bild- und Kunstwahrnehmende sich der Fokussierung seines Blicks bewusster wird als bisher. „Der explizite Betrachter“ – so denkbar offen und explizit hieß dann auch der Titel des Buches Wolfgang Kemps (Anm.3), in dem er die unterschiedlichen Rollen des Kunstbetrachtenden als Proband*in, Akteur*in, Teilnehmer*in und Prosumer*in untersucht und wechselvolle Geschichte der Kunstrezeption an beispielhaften Werken darstellt. Sprach Kemp 1978 noch eher in kommunikations-theoretischer Absicht von „drei Ebenen, die für alle Bildkünste konstitutiv“ seien – Herstellung, Vorstellung und Darstellung (Anm.4) – so kann man diese drei Ebenen heute spezifischer unter ihrer selbst aktivierenden Form von Zugänglichkeit verbuchen.
Guten Appetit
Kunst entsteht heute nicht mehr dadurch, dass man Traditionen zerstört, sondern dass man soweit wie möglich neue Fragenstellungen entwickelt, die heutige Dimensionen eines veränderten Formats fokussiert. „Glück ist eine Farbe“, hat kürzlich Ferdinand von Schirach formuliert; vielleicht aber auch eine Möglichkeit, etwas kennenzulernen, was mein restliches Leben verändert – und sei es die Erfahrung, Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrring“ mittels einer Fleischwurst sowie Birne auf Vollkornbrot serviert zu bekommen. Ich wünsche Ihnen Appetit auf frische Erkenntnisse!
(Anm.1) Vgl. dazu methodischen Überlegungen von Wolfgang Ullrich, Des Geistes Gegenwart. Eine Wissenschaftspoetik Berlin, 2014, S- 65 ff.
(Anm.2) Grundlegendes findet sich dazu bei Wolfgang Kemp, Foto-Essays zur Geschichte und Theorie der Fotografie. München 1978
(Anm.3) Wolfgang Kemp, Der explizite Betrachter . Zur Rezeption zeitgenössischer Kunst. Konstanz 2015
(Anm.4) a.a.O., (Anm. 2), S. 7