Gegen die Erwartungen
Wie plant man, wenn man nichts planen kann? Was ist ein Jahresprogramm, wenn ein Viertel des Jahres nichts passieren darf? Das Jahr 2021 wird mit diversen Öffnungs- und Schließungsszenarien, hygiene-technischen Einschränkungen und räumlicher Distanz, garniert mit einer Portion Kaffeesatzlesen und einem Pfund Hoffnung ein Ausstellungsjahr, das uns als Museum einmal mehr herausfordert, immer wieder neu und anders zu denken. Wie geht es weiter im Marta, wenn es weitergeht?
Dieses Jahr begann deutlich stiller als gewohnt, nicht nur was die Feuerwerks-aktivitäten betraf: Keine Jahrespressekonferenz, keine Programmvorstellung, kein Neujahrsempfang, nicht einmal eine Ausstellung gab es wie in all den Jahren am verkaterten 1.1. zu sehen – sonst allzeit ein beliebter Marta-Tag. Aus Lockdown light hatte sich längst Lockdown extreme entwickelt. Exakt am gleichen Tag, an dem wir 2020 erstmals diesen zuvor undenkbaren Akt einer pandemiebedingten Museumsschließung erlebten, konnten wir am 13.3. in diesem Jahr die Türen zu unserem Haus wieder öffnen und starteten gleich mit einem ausgebuchten Wochenende.
Gleichzeitig streamen und posten, filmen und talken wir was das Zeug hält, um Sichtbarkeit, Relevanz und Zeitgenossenschaft nicht gänzlich zu verlieren, während Sammlungsschätze und Sonderausstellungen im kaum absehbaren Dornröschenschlaf – inklusive kurzer Aufwachphasen – versanken. Und selbst wenn mit aller Kraft und höchster Sorgfalt, mit elektronisch gebuchten Zeitfenstern und strenger Wege- und Besuchsführung die Ausstellungsgalerien wieder zugänglich sind, so sind wir doch immer noch weit von einem Kunsterlebnis entfernt, wie man es eigentlich aus dem Marta kennt: interaktiv, partizipativ und unbeschwert. Doch was wäre die Zukunftsmaschine Museum, wenn nicht auch weiterhin Hoffnung, Innovation und Kreativität die zentralen Antriebskräfte für das gemeinsame Agieren darstellen würden?
(Fast) ungesehene Bilder
Soll man eine Ausstellung eröffnen, von der man bereits weiß, dass sie zwei Tage später wieder schließen muss? Diese Frage hatte Ende Oktober vergangenen Jahres für kurze Zeit die Gemüter im Marta-Team erhitzt, doch rasch stand ein klares JA unverrückbar in den Gehry-Galerien: Der Start der gerade fertiggestellten Ausstellung „Trügerische Bilder – Ein Spiel mit Malerei und Fotografie“ sollte auch ein unübersehbares Zeichen der Hoffnung sein, eine Manifestation für den Glauben an die Zukunft und die Bedeutung des Museums. Und es hat funktioniert! An den 2 ½ Tagen, die zwischen Ausstellungseröffnung und Museumsschließung lagen, kamen zahlreiche Besucher*innen zu uns, die in geordneten Bahnen und mit viel Rücksicht aufeinander vor dem Lockdown noch mal Kunst tanken wollten. Doch dann kehrte die große Stille in das Marta Herford zurück, mit über vier Monaten sollte diese Zeit sogar mehr als doppelt so lang werden wie beim ersten Mal.
Umsonst und draußen
Noch wissen wir nicht, in welchen Intervallen sich Museumsöffnung und -schließung in diesem Jahr abwechseln werden, aber wie schon im vergangenen Herbst trägt uns unsere Zuversicht sicher durch diese Krisenzeit – auch wenn sie ein bisweilen heftig schaukelndes Floß ist. Und so arbeiten wir mit Leidenschaft und Begeisterung für die vielen unvergesslichen Kunstmomente an einem Programm 2021, das so vielversprechend und herausfordernd bleibt, wie man es vom Marta gewohnt ist.
Ob geschlossen oder nicht, in diesem Sommer gehen wir verstärkt in den Außenraum rund um den spektakulären Gehry-Bau: Mit „Marta Open Air“ haben wir ein Format entwickelt, in dem sich ganz unterschiedliche Angebote zusammenfinden wie ein Audiorundgang zu den Skulpturen am Museum, Videos, Installationen und Präsentationen in den Fenstern rund um das Gebäude, künstlerische Inszenierungen der einzigartigen Architektur oder auch Mini-Performances zum Mitmachen, die von international bekannten Künstler*innen ganz coronaregelkonform konzipiert werden.
Zwischen Melancholie und Sensation
Innerhalb des Gebäudes wird währenddessen als erstes der Kölner Fotograf Benjamin Katz eine Retrospektive der besonderen Art eröffnen: Nicht seine weltweit berühmten Künstlerfotografien stehen diesmal im Fokus, sondern Ansichten und Bildfindungen jenseits der persönlichen Begegnungen, Landschaftsaufnahmen, Momentbeobachtungen, Industriebrachen oder schlicht das Meer. Für diese besondere Ausstellung hat der 82-jährige Künstler tief in seinem geradezu unermesslichen Negativ-Archiv gegraben, um großartige Augenblicke der Fotografie zwischen Melancholie und Poesie auf hochwertiges Barytpapier neu und zum Teil erstmals belichten zu lassen. Im Festjahr „Jüdisches Leben in Deutschland“ wirft diese Ausstellung zudem noch einmal einen ganz neuen Blick auf die biografischen Wurzeln dieses einzigartigen Fotografen.
Im September startet dann endlich das bereits zweimal verschobene Fashion-Projekt „Look!“, für das sich auch die drei großen Herforder Textilunternehmen Ahlers, Brax und Bugatti zu einer gemeinsamen Unterstützung und Begleitung zusammenfinden. Im Mittelpunkt einer spektakulär eingerichteten Ausstellung voller intensiver Raumerlebnisse steht das komplexe Verhältnis zwischen innovativem Modedesign und künstlerischen Aneignungen. Weniger der Kult um einzelne Modeschöpfer*innen leitet hier den Blick, als vielmehr deren künstlerische Verwandlung und Kommentierung, teils große Installationen, die die Produktionsbedingungen, die Transportwege, den Körperkult oder die erstaunlichen Materialien im Fashion-Sektor zu neuen Bildern verarbeiten. Aber selbstverständlich darf man sich auch auf exzentrische Entwürfe, erstaunliche Hintergrundinformationen und verblüffende Stoffabenteuer freuen.
Black Lives Matter
Ob kongeniale Ergänzung oder offensives Gegenprogramm: Parallel zu dieser opulenten Schau wird der südafrikanische Künstler Neo Image Matloga die Lippold-Galerie mit seinen berührenden collagierten Malereien in ein großes Bühnengeschehen verwandeln, das vor dem Hintergrund der Black-Lives-Matter-Bewegung eindringlich soziale und politische Freiräume verhandelt. Zugleich inszeniert er damit einen Präsentationsraum für das Werk des 1987 verstorbenen Fotografen Singarum Jeevaruthnam Moodley: In dessen Studio entstanden ebenso faszinierende wie intime Porträts höchst unterschiedlicher Zeitgenossen, die sich mit großer Selbstverständlichkeit zwischen traditioneller Stammeskultur und westlichem Pophabitus bewegen und heute aktueller denn je erscheinen.
Doch wird es wirklich so weitergehen, wie hier beschrieben oder doch noch einmal ganz anders? Unabhängig davon, wie wir diese Frage in einigen Monaten dann zumindest rückblickend beantworten können, sollten wir immer die große Bedeutung der Museen in unserer Gesellschaft im Blick behalten. Auch wenn es despektierlich und schmerzhaft war, unsere Häuser in den Pandemieverordnungen zeitweise ungenannt unter „Freizeiteinrichtungen“ subsummiert zu wissen, so sollten wir bei allem Insistieren auf unsere Bildungsarbeit einen wesentlichen Aspekt nie aus dem Blick verlieren: Wir sind auch oder vielleicht sogar vielmehr wichtige Einrichtungen, um die Menschen aus ihrer Einsamkeit und Isolation zu holen, um dem Verstummen die Sprache der Bilder entgegenzusetzen, dem lauthalsen Parolengebrüll die Stille des Kunstmoments zu entgegnen. Museen sind auch Orte des Austausches, der Begegnung, sie spiegeln gesellschaftliche Themen und schaffen Momente des Nachdenkens und Debattierens. Dafür machen wir unser Programm: Egal ob geöffnet oder geschlossen – es ist vor allem offen!
So haben wir ebenso schlicht wie einleuchtend auch das Motto für ein sicherlich denkwürdiges 2021 gewählt: Marta ist offen. Seien Sie mit dabei!
4 Replies to “Gegen die Erwartungen”
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Nach vier Monaten heute endlich mal wieder ein Besuch im Marta. Das war – obwohl wir beide Ausstellungen schon gesehen hatten – nicht nur das Highlight der Woche sondern des ganzen Monats. Dazu kommt, dass die Organisation des Besuches vorbildlich ist ohne zu sehr gängelnd zu sein. Zu diesem Konzept kann man nur gratulieren und wünschen, dass es irgendwann einmal der Politik dämmert, dass im Vergleich zu Supermärkten im Museum das Ansteckungsrisiko für Covid vernachlässigt werden kann – das Ansteckungsrisiko für Kunst ist allerdings in diesen Zeiten extrem hoch und das soll auch so bleiben. Dankeschön an das Marta Team.
Vielen Dank für diese warmen Worte! Wir geben uns viel Mühe, damit unsere Gäste ein entspanntes, positives und vor allem sicheres Museumserlebnis habe. Schön, wenn das gelingt!
Lieber Herr Lapp,
Ihr Kommentar hat mich sehr gefreut und ist für das ganze Team eine tolle Bestätigung. In der Tat erfordern die letzten Monate gerade bei den Mitarbeitenden im Besuchsservice ganz neue Umgangsformen und Aktivitäten. Es ist viel Begeisterung für dieses Museum mit dabei, wenn plötzlich neue Wege und andere Kommunikationsformen erarbeitet und umgesetzt werden müssen. Und nicht immer ist die viele Mühe dahinter auch von außen erkennbar. Wenn sich dann Kunstgenuss und Wohlfühlfaktor im Marta trotz dieser Krisensituation gut miteinander verbinden, so ist das für uns alle eine großartige Ermutigung. Mit einem herzlichen Dank und in der Hoffnung, dass sich die Bedeutung von Kunst und Kultur in dieser Zeit noch viel tiefer in das Bewusstsein der politisch Handelnden eingräbt,
R. Nachtigäller
We love you!