Kaum beachtet, aber voller Impulse: Das Potential von Gewerbegebieten
Bei „Stadt + Vision“ im Marta Herford nahmen Sonja Nagel und Jan Theissen vom Architekturbüro AMUNT die sogenannte Zwischenstadt als Thema in den Fokus. Was können zusammenhanglos erscheinende Misch- und Gewerbegebiete zur Entwicklung unserer Städte beitragen?
Die um Großstädte herum wachsende, verstädterte Landschaft liegt schon seit langem im Interesse der Architektin und des Architekten aus Stuttgart, in dessen Randbereichen diese Leidenschaft für polyvalente Alltagsorte und hybride Gebäude und Strukturen ihren Anfang nahm. Beim Architekturgespräch am 10. Juli 2019 gaben sie einen inspirierenden Überblick über diese persönliche Feldforschung – anstatt einer sicher ebenso anregenden Werkschau über die Bauten von AMUNT . Besondere Bekanntheit erlangte das Büro zum Beispiel mit der Sanierung und Erweiterung eines Siedlungshauses, dem Projekt „Schreber“, das im Rahmen der Ausstellung „Reduce/Reuse/Recycle“ (u.a. im Deutschen Pavillon auf der Architekturbiennale 2012 in Venedig) vorgestellt und mit dem Deutschen Architekturpreis 2013 ausgezeichnet wurde.

Eine inspirierende „wilde Mischung“
Die engagiert betriebene Feldstudie des Architektenduos zu den verstädterten Randgebieten hat ein umfangreiches Bildarchiv hervorgebracht. Dieses gibt Aufschluss über ungewöhnliche Gebäudetypen, die sich in der „Zwischenstadt“ entwickelt haben und die üblicherweise die getrennten Funktionsbereiche Wohnen und Arbeiten unter einem Dach vereinen. Zu entdecken gibt es architektursprachlich überraschende wie auch skurrile Kombinationen: So befindet sich z.B. eine Wohnetage mit Rollrasen und bepflanzter Dachterrasse direkt über einer Werkstatt in „Gewerbegebiet-Ästhetik“.
Für Nagel und Theissen macht die Faszination genau diese Vielfalt, diese „wilde Mischung“ aus, die bemerkenswerterweise gerade im städtebaulichen Freiraum dieser Mischgebiete zu finden ist: „Es geht nicht um Schönheit“, sondern darum, Inspiration daraus zu schöpfen und „vielleicht Lösungen für andere Kontexte zu finden“. Sie schätzen das Potential dieser Stadtränder mit Raum für Experimente und kreative Gestaltung. Als Vorläufer solcher Häuser können Bauernhäuser oder auch Handwerkerhäuser, in denen in der unteren Etage eine Werkstatt untergebracht war, aufgezählt werden. Diese Verbindung von Wohn- und Arbeitsraum in vielerlei erdenklichen Ausformungen ist aufgrund gesetzlicher Regelungen in Rand- oder Gewerbegebieten möglich, die jedoch in der gegenwärtigen Architekturrezeption (noch) kein Thema sind.

Ich habe Nagel und Theissen im Anschluss an ihren Herforder Vortrag fünf Fragen gestellt:
Ausgehend von Ihrer Feldstudie sehen Sie gerade in Gewerbegebieten bzw. in hybriden Landschaftsräumen ein großes Potential für die Stadtentwicklung. Welche wertvollen Impulse bieten diese Mischgebiete?
Die Gewerbegebiete sind in mehrerlei Hinsicht interessant. Die Räume der Zwischenstadt sind überall anzutreffen und machen große Teile unserer bebauten Umwelt aus. Unserer Meinung nach werden diese Gebiete aber nicht ernst genommen, bzw. mit der Sorgfalt geplant und bebaut, die nötig wäre, um qualitätsvolle Stadtlandschaft zu schaffen. Deshalb entsteht dort alles Mögliche. Viel Fläche ist versiegelt ohne Mehrwerte zu bieten, die Gestaltung dieses Raums spielt keine Rolle, insgesamt eine Gestaltungsdiaspora des öffentlichen Raums.
Andererseits sind diese wilden Landschaften, insbesondere die Gewerbegebiete für uns auch sehr inspirierend, weil dort hybride Nutzungsmischungen durch die in Deutschland gültige Baunutzungsverordnung begünstigt sind. Die starre Funktionstrennung ist hier aufgeweicht und wird von den ansässigen Unternehmern vielfältig ausgestaltet. Diese mögliche Symbiose eines Industriebaus mit einem Wohnhaus vereint Wohnen und Arbeiten unter einem Dach und bringt dadurch herrlich vielgestaltige Hybridbauten hervor, die ein hohes Maß an Individualität und Prägnanz besitzen. Nicht immer gelungen, oft sehr pragmatisch, aber mit einem hohen Reichtum an Form und einer Vielfalt an Möglichkeiten.
Sie entstehen durch die programmatischen Anforderungen des Gewerbes und der Wohnträume der Bewohner*innen und überwinden dabei die Funktionstrennung der Moderne. Die Gebäude schaffen einen Lebensmittelpunkt, der Arbeitsstätte und Wohnung integriert. Die Bewohner*innen des semiurbanen Raums experimentieren mit anderen Möglichkeitsformen von Gebäuden, Lebens- und Arbeitsmodellen.
Uns liegt am Herzen, dass die Gewerbelandschaften Teil der Architekturdiskussion werden und durch einen bewussten Blick und einer ernsthaften Auseinandersetzung ihre latent vorhandenen städtebauliche und architektonische Potentiale entdeckt werden können, bzw. diese Gebiete eine freiräumliche Aufwertung erfahren. Zum anderen regen die hybriden Bauformen dazu an, über neue programmatische Verknüpfungen nachzudenken und auch dazu, inwiefern die Funktionstrennung noch zeitgemäß ist.

Was ist aus Ihrer Sicht gute Architektur?
Eine Architektur, die erfindungsreich und kreativ mit den entwurflichen Bindungen, der Aufgabe und dem Ort umgeht und alles schlüssig in einem Gesamtkonzept vereint. Bei besonders guter Architektur eröffnen sich neue Sichtweisen auf Themen oder den Ort, vielleicht in diesem Punkt vergleichbar mit guter Kunst.
Was zeichnet Ihre besondere Herangehensweise und Auseinandersetzung mit Bauaufgaben und Kontexten aus, die Sie auch charakteristische oder „eigenwillige“ Architekturen realisieren lassen?
Uns ist es immer wichtig, dass Architektur, die eine neue Setzung ist, einen neuen Ort entstehen lässt. Sie soll eine Bereicherung für den Ort selbst und die Menschen sein. Über das Notwendige hinaus Mehrwerte zu schaffen, Antworten auf aktuelle gesellschaftliche Fragen zu geben und die möglichen Ausdrucksweisen von Architektur auszuloten, ist unsere große Freude beim Architekturschaffen.
Welches Gebäude hätten Sie gerne selbst entworfen oder welches Ihrer Projekte würden Sie als besonders überzeugend bezeichnen?
Es gibt viele beeindruckende Architekturen, die Sea Ranch von MLTW ist nur eine davon. In diesem Sinne hoffen wir, dass unser Projekt ebenfalls Spuren hinterlässt und andere Architekt*innen dazu inspiriert, das „Feuer“ weiterzutragen.
Wenn Sie vor ca. 20 Jahren das Marta Herford hätten planen können, wie würde es aussehen?
Da haben wir noch studiert, sicher ganz anders – rechteckiger. Als multifunktionaler Erweiterungsbau der ehemaligen Fabrikhalle hat uns Frank Gehrys Entwurf sowohl stadträumlich als auch innenräumlich jedoch sehr überzeugt.