[kiʃiˈnəu̯]: Eine fotografische Reise in eine andere Welt
Chișinău oder Kischinau, dieser Ort, von dem man nahezu nichts weiß – geschweige denn wie genau man ihn richtig ausspricht –, war 2016 das Ziel einer Reise von FotografiestudentInnen der Fachhochschule Bielefeld. Warum gerade jetzt dorthin fahren?
Eine Reise aus Deutschland an diesen Ort ist nicht nur eine Reise entgegen der gängigen Bewegungsströme, sondern auch eine Exkursion ins Unbekannte, gefühlt sogar in einen anderen „Kosmos“. Zu entdecken gibt es selbstverständlich anderes Essen, andere Gerüche und Farben, eine andere Musik und Sprache. Vor allem aber gibt es Menschen zu entdecken, die diese Welt bewohnen und Geschichten zu erzählen haben.
Die Hauptstadt Moldawiens liegt am südöstlichen Rand Europas mit Grenzen zu Rumänien und der Ukraine. Sie hat rund 700.000 Einwohner, besitzt eine Universität und ist kulturell und wirtschaftlich für die gesamte Region von zentraler Bedeutung. Mit dem Ende der Sowjetunion gewann Moldawien seine Unabhängigkeit wieder, erlebte jedoch auch einen blutigen Bürgerkrieg. Dadurch verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage vehement. Auch heute noch wandern viele Menschen ab, mit dem Traum im Gepäck woanders eine bessere Zukunft zu finden.

Begegnungen in der Fremde
Wie lernt man also die Menschen kennen und erfährt ihre persönlichen Erinnerungen und Vorstellungen von der Gegenwart und der Zukunft, wenn man die Landesprache Rumänisch nicht beherrscht? Hilfreich kann der Weg über Institutionen sein, denn er kann Türen öffnen, um Einblick zu gewinnen in beispielsweise einen Bootsclub, eine Förderschule, einen Verein für Homosexuelle oder gar die orthodoxe Kirche. Dennoch erfordert es besondere Neugierde und hartnäckigen Forschungsdrang aber auch Geschick und Einfühlung, um eine ehemalige Tänzerin so gut kennenzulernen, dass sie ihre private Wohnung öffnet, ihre Vergangenheit mit einem Fremden teilt und sich fotografieren lässt. Wie gewinnt man das Vertrauen eines Veteranen, der sein Leben dem Protest gegen die Regierung gewidmet hat und in einer kleinen Hütte mehr oder weniger auf der Straße lebt, oder auch von orthodoxen Priestern, die per se die Zurückgezogenheit der Klöster suchen? Und wie begegnet man Jugendlichen, die eigentlich drauf uns dran sind, dem Land schon bald ihren Rücken zu kehren und genau dorthin möchten, wo man selbst lebt?
Architektur als Spiegel von Lebensmodellen und Lebensbedingungen
Um zu erfahren wie die Menschen leben, ist aber auch die Architektur und ein Blick hinter die Fassaden aufschlussreich. Architektur ist ein Spiegel von Lebensmodellen und Lebensbedingungen. Einige der StudentInnen verließen aber auch gezielt das Umfeld der Hauptstadt, um das Leben auf dem Land oder im anliegenden Transnistrien zu erkunden.
Sobald die Motive gefunden und die Beziehungen geknüpft waren, wurde es für die Gruppe ein wenig zu einer bewusstseinserweiternden Zeitreise. Die Erkenntnis, wie andere Menschen im heutigen Europa leben – diese Gleichzeitigkeit des Ungleichen –, lässt ein Gefühl zwischen Romantisierung und brutalem Realitätsbewusstsein entstehen. Die Geschichte und die wirtschaftliche Lage, die die Gegenwart dieses Landes und die soziale Realität der Menschen prägen, lässt den Unterschied zwischen der eigenen Situation und der dieser Menschen am Rande Europas deutlich hervortreten. Auch wenn es schwierig ist, das Leben und die Gedanken der moldawischen Menschen zu ergründen, sind die entstandenen Fotos lebendiger Ausdruck der Gefühlslagen und Reflexionen der abgelichteten Menschen aber auch der FotografInnen selbst. Sie übertragen sich auf den Betrachter, der eingeladen wird mit auf Reisen zu gehen in diese innere Welt.
Hinweis:
Ab dem 3. Mai stellen die StudentInnen des Studiengangs Gestaltung der FH Bielefeld ihre Fotografien im Marta-Forum aus.