Kunst erinnern – Echos einer Vergangenheit
Wer sich nach dem (hoffentlich bald wieder möglichen) Besuch einer Ausstellung an ein besonderes Werk erinnert, der merkt bald, wie eng Kunst und unser Erinnerungsvermögen kooperieren. Doch woran erinnert man sich eigentlich, wenn man sich ein einzelnes Kunstwerk ins Gedächtnis ruft? Wer sein Erinnern öffentlich macht, der stellt damit auch etwas aus seinem Innenleben zur Diskussion.
Kennen Sie Freuds Brille? Objekte und Bilder, die Erinnerungen wieder wachrufen, sind zur Zeit der letzte Schrei. Die Neue Galerie in der New Yorker Fifth Avenue bietet gerade ein Geschenkensemble mit einem exklusiv anmutenden Inhalt an. Genauer gesagt: eine Brille mit eleganten dunkelgrünen Gläsern nach dem Modell, wie Sigmund Freud es einst trug. Das Gestell ist aus Schildpatt von einem Optiker handgefertigt. Für 537 Dollar kann man seinen kulturellen Geschmack demonstrieren und außerdem zeigen, wie Erinnerungskultur heute konsumgemäß funktioniert.
Aus New York schnell wieder zurück nach Herford: Eine meiner nachdrücklichsten und bewegendsten Erinnerungen an eine Kunstbegegnung der letzten Jahre verdanke ich Marina Abramović, die sich am 05.11.2004 bei der Eröffnung der Ausstellung „Bitte nehmen Sie Platz, Herr Ensor“ im Marta Herford nackt mit einem menschlichen Skelett im Arm auf einem der Betonträger des damals noch jungfräulichen Marta Herford präsentierte und das Publikum durch diesen verstörenden Anblick sofort in ihren Bann zog. Die Ambivalenz dieser Erscheinung war augenscheinlich; Kunst war hier plötzlich zu einem verwirrenden, sinnlichen Rätsel geworden.
Was hat nun Freuds Brille mit Marina Abramovićs Performance zu tun? Bestimmte Kunstwerke oder Dinge des Alltags werden ja immer dann für uns zu einzigartigen Objekten, wenn sie uns an etwas Unverwechselbares erinnern, das mit nichts anderem vergleichbar ist – an die Option mittels Kunst Erinnerungen zu aktivieren, die auch gleich für neue Zwecke instrumentalisiert werden können. Ein Schelm, wer dabei beispielsweise nicht sofort an eine neue smarte Form der Besucher*innenaktivierung denkt. Könnte man sich eine zukünftige Ausstellung denken, in der unser Umgang mit und das Aktivieren von Echos unserer Vergangenheit im Vordergrund stünden? Was würde ein solches Projekt wohl von anderen Ausstellungen unterscheiden? Ein möglicher Aspekt wäre vielleicht dieser: Es gibt offenbar, wenn auch nicht sehr häufig, einzigartige Bilder, die durch ihre spätere Erinnerbarkeit die Wirkung des Originals womöglich noch übertreffen.
Die Magie des Erinnerns
Abramović spielte in ihrer damaligen Performance sehr bewusst mit der alten Ikonographie vom „Tod und das Mädchen“
aber auch mit der offenbar zeitlosen Frage, wie Leben und Tod, bewegende Kunst und schmerzhafte Erinnerung aufs Engste zusammenhängen können. Interessant wäre es einmal zu untersuchen, wie sich das Gedächtnis bei Ausstellungsbesuchenden im Laufe ihrer Lebensgeschichte verändert: Wie erinnert man sich gerade in seinen späteren Lebensjahren an seine früheste Begegnung mit einem Kunstwerk, das man vielleicht nie mehr vergessen kann und wobei gerade das Andenken die Kunsterfahrung bis heute lebendig hält. Kunst zu begegnen hat so gesehen immer auch einen magischen Anteil: Wir erinnern uns daran, wie uns einmal in unserem Leben die Gegenwart plötzlich in einem neuen Licht erschien…
Selbst Kunstwerke, deren Bedeutung heute vor allem darin bestehen, dass sie unter normalen Umständen übersehen und so in keiner Weise erinnert werden – wie etwa Denkmäler im öffentlichen Raum oder Bilder in Hotels – enthalten zumindest noch rudimentäre Erinnerungen daran, dass wir inzwischen mehr als jemals zuvor in einer Welt aus erinnerten Bildern leben, in der die Vergegenwärtigung einzigartiger Kunstbegegnungen eine relevante Rolle spielen kann. Dieses mit dem Medium Kunst assoziierte Gedenken kann aber auch in der menschlichen Sprache eine metaphorische Dimension annehmen. Dass uns ein Licht aufgeht, wir plötzlich hellwach und in diesem Moment auf etwas Ähnliches wie ein emphatisches Erinnern gestoßen sind, ist mir nur durch den besonderen – metaphorischen – Gebrauch von Sprache möglich. Aber auch das Gegenteil des bewussten Wachrufens, das Déjà-vu, wird offenbar gerade durch einzigartige Momente der Begegnung zwischen Kunst und Erinnerungen evoziert. Den Moment des Erinnerns an den Geschmack des feines Madeleine-Gebäcks hat bekanntlich Marcel Proust in seinem epochalen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913) festgehalten und er ging damit als Madeleine- oder auch Proust-Effekt in die Geistesgeschichte ein. Proust gilt auch als Entdecker der sogenannten „mémoire involontaire“, des unwillkürlichen Gedächtnisses einer langen Dauer, das ein sehr merkwürdiges Phänomen darstellt. Jahre und Jahrzehnte können zwischen der auslösenden Sinneswahrnehmung und dem dadurch wachgerufenen Erinnerungserlebnis liegen, das über lange Zeiträume vergessen war und uns dann plötzlich wieder vor Augen steht (vgl.: Harald Weinrich, Lethe, Kunst und Kritik des Vergessens. München, 2005, S. 191).
Erinnern als Dokumentieren – Kunst mit Selfies
Heute sind derartige Rückschauen an Kunstbegegnungen eher selten geworden, beziehungsweise haben sich in extrem schnell reproduzierbare fotografische Liveacts, das heißt in Selfies verwandelt. Die heutigen „Erinnerungserinnerungen“ werden dabei weniger durch eine langsame, imaginäre Rückschau als durch die digital mitteilbare Dokumentation in Form von spontanen Selfies vor Kunstwerken realisiert. Die Botschaft dieser „Schnellschüsse mit Kunstbetrachtenden“ liegt auf der Hand: Als würde ich das Kunstwerk im Hintergrund als „meine Trophäe“ betrachten so sehe ich mich selbst mit „meinem“ Werk; es geht weniger um mein Erinnern, sondern eher um so etwas wie eine Selbst-Dokumentation, die das Kunstwerk buchstäblich als Hintergrundtapete behandelt. Auf diese Weise wird nicht mehr das Gedächtnis an früher einmal Gewesenes ermöglicht, sondern die ewig aktuelle Reproduktion des Immergleichen produziert. Es entsteht im Grunde also die Stillstellung des sehr persönlichen, ja intimen Vermögens, die eigene Biographie mit dem Kunstgedächtnis zu triggern und ihr so einen tieferen Sinn zu verleihen. Ob man will oder nicht – seinen eigenen Erinnerungen kann (und will) man nicht entgehen; es kommt nur darauf an, wie man sich zu ihnen verhalten will. Es wird spannend zu beobachten sein, wie Selfies als gegenwärtige neue „Weltsprache“ (Wolfgang Ullrich) auch in die Kunstwelt eindringen werden.
Nicht zuletzt hat jedes Schreiben – und sei es nur wie dieser kurze Blogtext hier – mit unserer Fähigkeit eines reflexiven Erinnernkönnens zu tun: „Das, worüber ich schreibe, ist anders als ich. So wie das, was ich schreibe intelligenter ist als ich. Weil ich es umschreiben kann,“ so schreibt Susan Sontag in ihrem Essay „Schreiben ist die Kunst des Lesens“ (2000). Und in seinem Roman „Zeig dich, Mörder“ (2007) heißt es bei Louis Begley: „Zum Glück ist das Schreiben eine magische Handlung.“ So klar und prägnant uns plötzlich ausgesuchte Erinnerungsbilder vor dem inneren Auge stehen können, so mühsam und nicht-prägnant erscheint uns manchmal die Arbeit des Schreibens, die vieles von Zufälligkeit und Magie aber auch einiges vom Willen zur Ordnung hat. Aber der innere Zusammenhang eines magischen Herbei-Schreibens und eines aktiven Wieder-Erinnerns wäre schon wieder eine andere Geschichte…
3 Replies to “Kunst erinnern – Echos einer Vergangenheit”
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Ich erinnere mich noch an die Eröffnungsausstellung „Private Heroes“ in 2005. In einer Ausstellungsecke des Marta’s befand sich eine Installation mit alten Haushalts- und Erinnerungsgegenständen. Unter anderem eine alte Gitarre, mehrere in die Jahre gekommene Poster, alte Stühle usw.. Mein erster Gedanke war: Das sieht ja aus wie bei uns im Keller. Der erster Gedanke meiner Frau war: Hoffentlich räumt mein Mann endlich einmal unseren Keller auf. 🙂
Ich denke an die Mona Lisa, kaum einer schaut sie an, sie scheint aber gegenwärtiger in der Welt und in den Köpfen zu sein als alle anderen Gemälde, womöglich wird man schon mit der Erinnerung an sie geboren …
Was für ein schöner Gedanke. Ja, manche Werke scheinen tief in unseren Herzen verankert zu sein!