Kunst-Kontaktverbot – Ein Plädoyer für physische Auseinandersetzung
In Zeiten der Corona-Pandemie wachsen die Produktion und der Konsum von digitalen Inhalten auch im Kunstbereich unvermeidlich immer stärker. Doch ist es nicht gerade die körperliche Konfrontation mit der Kunst, die eigene räumliche Verortung vor dem Werk, die die Wahrnehmung aktiviert und eine unmittelbare Reaktion der Betrachtenden hervorruft?
Je stärker die Corona-Maßnahmen greifen, umso stärker wird der physische Austausch, der Bezug des eigenen Körpers zu seiner Umwelt eingeschränkt. Der Besuch des Museums, der Gang ins Theater, das Schweifen durch den Zoo, das ausgelassene Tanzen auf Konzerten und in Clubs, Reisen in die Ferne: untersagt! Der Mensch bleibt zu Hause, allein der Spaziergang und Rückzug in die Natur, oder aber in den digitalen Raum, scheint ihm noch geblieben, um sich mit anderen Perspektiven auf die Welt auseinanderzusetzen. Wir verbringen zwangsläufig viel Zeit in den eigenen vier Wänden. Ausgestattet mit Handy und Laptop begeben wir uns zur Ablenkung und Auseinandersetzung ins Netz. Dort schwappen millionenfach Bilder vor unsere Linse, jedes auf Aufmerksamkeit bedacht, seine eigene oder auch keine Wahrheit vermittelnd. „Diese vielen und allgegenwärtigen Bilder wirken wie Aerosole, die unsere Augen verkleben und unsere Sehgewohnheiten und Realitätsvorstellungen verändern.“ (Urs Stahel) (1)
Zu viele Bilder vernebeln die Wahrnehmung
Das überreizte Auge findet etwas Ruhe und Beständigkeit beim Rückgriff auf das Analoge: Zeitschriften und Bücher beflügeln unsere Imagination und erschaffen nur für uns zugängliche Gedankenräume. Das scheint, jedenfalls was Abstands- und Hygieneregeln angeht, nahezu perfekt, ist doch die physische Begegnung mit anderen Menschen hier schier unmöglich. Allerdings hinterlässt dieser Rückzug in sein Inneres auch ein Gefühl von Einsamkeit. Denn gerade der Austausch mit einem Gegenüber – mit dem Kunstwerk, der Livemusik, den Schauspieler*innen auf der Bühne – triggert die Wahrnehmung der Betrachtenden auf eindringliche Weise. „Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darin; er geht in dieses Werk ein, (…). Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich.“ (Walter Benjamin) (2)
Separation und malerische Transformation
In der aktuellen Ausstellung „Trügerische Bilder – Ein Spiel mit Malerei und Fotografie“ spielt der bosnische Künstler Radenko Milak mit dem Verständnis des Realen und der Auswirkung der medialen Bilderflut auf die Betrachtenden. Dabei lenkt er den Blick besonders auf Medienbilder, die wichtige historische und gesellschaftliche Entwicklungen abbilden und sich blitzschnell, freizugänglich und oftmals auch losgelöst von ihrer ursprünglichen Botschaft im Netz verbreiten. Milak geht dabei der Frage nach, welche Rolle diese Bilder bei der Herausbildung unseres kulturellen Gedächtnisses spielen. Wie wird das Visuelle in unserer persönlichen und kollektiven Erinnerung fixiert und gespeichert? Der Künstler separiert nach akribischer Recherche Einzelbilder aus der Masse und übersetzt die gesammelten Fotografien in einzigartige Aquarelle. Er überführt das digitale, im Netz ständig zwischen verschiedenen Deutungszusammenhängen pulsierende Bild in die kontemplative Sphäre des Analogen. Collagenhaft verbindet er teils mehrere Vorlagen zu einer neuen, vielschichtigen, manchmal auch verstörenden Erzählung. Die Bildinformationen des Ausgangsmaterials gehen auf diese Weise neue Beziehungen ein und befragen ihre Wahrnehmung als soziale, politische und auch ästhetische Gefüge. In Milaks malerischer Transformation werden Konturen unscharf, eindeutige Informationen zu Andeutungen und es entsteht ein subjektiver Deutungsspielraum, eine sinnliche Offenheit, ein introspektiver Blick. In ihrer hauptsächlich schwarz-weißen, zart verschwommenen Ästhetik verknüpfen sich die Werke mit Bildern unserer Erinnerung und aktivieren die Imagination. Sie evozieren ein unterschwelliges Gefühl von Beteiligtsein und gleichzeitig wirken die dargestellten Szenerien seltsam entrückt. So wie die vernebelten Fragmente eines Traums, der ein nicht wirklich greifbares Gefühl von Betroffenheit hinterlässt. Dieses Empfinden macht es schwer, das Dargestellte von seiner eigenen Lebensrealität zu trennen.

Das Kunstwerk berührt unmittelbar
Indem Radenko Milak die Ausgangsbilder der massenhaften digitalen Zerstreuung entzieht, verschiedene Bildquellen zusammenbringt und im subjektiv Malerischen vereint, ermöglicht er eine neue, konzentrierte und tiefgründige Auseinandersetzung mit ihren Kontexten. Aber es ist nicht alleine dieses künstlerische Vorgehen der Separation und das Spiel mit dem Bewusstsein der Betrachtenden, was diese in ihren Bann zieht. Besonders die malerische Übersetzung des Künstlers, beispielsweise in den überlebensgroßen Aquarellen (250 x 180 cm) der Werkserie „Anthropocene“, konfrontiert er die Rezipierenden mit einer ästhetischen Wucht, die nur das Original hervorbringen kann. Radenko Milak thematisiert in dieser Serie die durch menschliches Handeln und technologischen Fortschritt global veränderte Natur. Umweltkatastrophen – wie die massiven Brände im Amazonas, Luftverschmutzung, Mikroplastik und ihre Auslöser wie immer weiter voranschreitende Verstädterung und Rodung – verwandeln die Oberfläche und die biologische wie auch chemische Zusammensetzung der Erde langfristig. Das Anthropozän, das vom Menschen geprägte Zeitalter, scheint durch das von diesem selbst gesteuerte Zutun dem Zusammenbruch nahe. So fröhlich und sinnlich sich das bunte Farbspiel in der Arbeit „Anthropocene, Microplastics in polluted water, view trough electron microscope” auch zunächst präsentiert, verweist doch spätestens der Titel auf die zerstörerische Kraft von Mikroplastik. Die vielfach vergrößerte Darstellung durch ein Elektronenmikroskop macht sichtbar, was das normale menschliche Auge nicht sehen kann und entfaltet ein schaurig-schönes, bildgewaltiges Schreckensszenario.

Das sinnliche Erlebnis lässt sich nicht wegklicken
Die malerische Bearbeitung der fotografischen Vorlage entfaltet erst durch das körperliche Erleben, in der physischen Gegenüberstellung von Bild und Individuum im konkreten Raum ihre einzigartige Wirkmacht: Die Möglichkeit, die Betrachtenden unmittelbar und tief zu berühren. Nur durch die sinnliche Überzeugungskraft, die spezifische Aura des Werkes (Walter Benjamin), vermittelt sich ein Gefühl von Einmaligkeit und Echtheit. So provoziert Milak eine Unmittelbarkeit und Betroffenheit, die sich nicht einfach mit dem Zeigefinger wegwischen lässt, wie das digitale Bild auf dem Handydisplay. „Die Umstände, in die das Produkt der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks gebracht werden kann, (….), entwerten auf alle Fälle sein Hier und Jetzt. (…) so wird durch diesen Vorgang am Gegenstand der Kunst ein empfindlichster Kern berührt, den so verletzbar kein natürlicher hat. Das ist seine Echtheit.“ (Walter Benjamin) (3)
Musealer Raum als gesellschaftliches Aktionsfeld
Gerade jetzt, in der Corona-Pandemie, produzieren auch die Museen vermehrt digitalen Content. Denn bei geschlossenen Häusern ist die Vermittlung im Netz der einzige Weg, die Inhalte der vielseitigen Museumsarbeit nach außen sichtbar und erfahrbar zu machen. Doch so notwendig, bereichernd, innovativ, unterhaltsam und reflektiert die aktuell entwickelten Formate auch sein mögen, das Kunsterlebnis vor Ort ersetzen sie keinesfalls. Dennoch fördert die Pandemie hier etwas Wesentliches für das Museum der Zukunft: Die Erkenntnis der existenziell notwendigen Auseinandersetzung mit der Digitalisierung und die damit einhergehende Öffnung des musealen Raums nach außen. Inklusion und Partizipation können nur stattfinden, wenn man das Museum auch außerhalb der Gebäudemauern als gesellschaftlichen Raum der Auseinandersetzung öffentlich zugänglich macht. Mein persönliches Kunst-Corona-Fazit: Ich halte die physische Konfrontation mit der Kunst vor Ort für absolut notwendig und nicht ersetzbar und leide darunter, dass dies aktuell nur eingeschränkt oder gar nicht möglich ist. Genauso wenig möchte ich aber auch nicht mehr auf die digitalen Möglichkeiten verzichten, die den musealen Raum zu einem offenen Kommunikationsort und inklusiven gesellschaftlichen Aktionsfeld machen. Analoges und Digitales bedingen sich gegenseitig und müssen zusammen gedacht werden.

(1) Urs Stahel, zitiert in Kunstforum Bd. 273, 2021, S. 61.
(2) Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main, 2006, S. 70.
(3) Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main, 2006, S. 15-16.