Leben und Nachleben: Produktivität in Kunst und Naturwissenschaft
Leben bedeutet für die Kunst in etwa etwas, was die Evolution für die Naturwissenschaften darstellt: eine Herausforderung Neues auf ungewohnte Art erkennbar zu machen. Natur lebt. Kunstwerke aber leben nicht – sie dauern an. Unter gewissen Umständen auch sehr lange.
Eine Aufgabe für Nachgeborene
In seinem Gedicht „Über die Bauart langandauernder Werke“ stellte sich Bert Brecht genau diesem Problem: „Wie lange dauern Werke? So lange als bis sie fertig sind. Solange sie nämlich Mühe machen verfallen sie nicht.“ Am Ende seines Gedichts stellt Brecht implizit die Frage wie Werke auch in Zukunft noch werden können und appelliert direkt an die Verantwortung seiner nachgeborenen Nutzer: „Frage nicht: wie werden sie sein? Sondern bestimme es.“ Eine Darstellung, die lange genug betrachtet oder Teil einer Sammlung wird, verwandelt ein Werk in einen biographischen Teil einer Erzählung, sehr häufig die Geschichte einer kulturellen Bereicherung (Anm.1). Es beginnt in dieser Form quasi dauerhaft weiter zu leben, indem es sich selbst und für andere so darstellt, als ob es immer mehr an Wert gewinnt und im seltenen Fall wie eine unsterbliche Ikone weiter existieren wird; spätestens im Museum wird das Kunstwerk nicht selten zu einem häufig wie leblos erscheinenden Relikt menschlicher Bearbeitung. Diese postmoderne und zugegeben biologistische Version vom Nachleben durch Kunst ist natürlich stark übertrieben und missverständlich; sie formuliert sehr offen und transparent einen Prozess, dessen Auswirkungen erst annäherungsweise absehbar sind.
„…ein Enzym wie eine Symphonie von Beethoven“
Die heute durch Vergleiche möglich gewordene Darstellung, nach der man ein Kunstwerk gleichsam wie einen hochgradig aktivierbaren Modellorganismus betrachten kann, wird – gerade auch in der aktuellen zeitgenössischen Kunst (Anm.2) – selbst zu einem offenen Paradigma, das permanent auf die eigenen Denk-Möglichkeiten zurückwirkt. „Für mich ist ein Enzym wie eine Symphonie von Beethoven. Seine Aminosäuren und die Buchstaben der DNA entsprechen den Musiknoten. Wir können einzelne Akkorde herausschneiden und anderswo wieder einfügen, aber wir sind noch lange nicht in der Lage, eine gelungene Symphonie zu komponieren, sprich ein funktionierendes Enzym zu erfinden – das kann nur die Evolution (Anm.3).“ Wer diesen sehr attraktiven Vergleich der Chemie-Nobelpreisträgerin von 2018, Frances Arnold, liest, der kommt schnell auf neue, lebendige Ideen: Enzyme, die als Katalysatoren in Zellen aktiv sind, werden durch die Evolution gesteuert, aber auch durch die Hand des Menschen künstlich beeinflusst. Dieser kann mit seinen eigenen Ideen die Mutation und Selektion von vorhandenem Material intelligent anwenden und vorantreiben. Betrachtet man eine Darstellung wie eine Art Lebewesen, das selbst als Bild gewordener Ausdruck für etwas Anderes, Höheres und lebendig Gemachtes erscheint, werden die Grenzen zwischen Kunst und Evolution gleichzeitig transparenter als auch unheimlicher. Alles wird möglich – eine ebenso faszinierende wie auch ungewisse Zukunftsperspektive.
Lebendige Produktivität
Schon Charles Darwin war kein reiner Naturwissenschaftler (Anm.4). Ähnlich wie dieser arbeitet der heutige wie ein Künstler: Er entwickelt unerwartete Darstellungsräume, ersetzt Altes durch Ähnliches, rekombiniert Vergleichbares und greift so in die zufällig erscheinende Kette des Lebens ein. Der Künstler arbeitet dagegen a u c h wie ein Naturwissenschaftler: Er betrachtet die Evolution von Kunst und Natur als unendlichen Ideenpool, aus dem er sich je nach Interesse und aktueller Auftragslage bedient und dabei neue Modi des Gestaltens erfindet, verändert und so die Funktionen der kulturellen Evolution irreversibel erweitert. Kunst macht Einzigartiges in einzigartiger Weise vorstellbar: wie Neues in Ideenlaboren buchstäblich gezüchtet wird und wie dabei die Grenzen zwischen kreativer Intelligenz und technischer Natur immer mehr verwischen. Ob Künstler oder Naturwissenschaftler: Wer so gezielt, fokussiert und ideenreich in die Evolution der Kunst eingegriffen hat, verlängert damit – bis auf Weiteres – die Dauer von Werken und lässt sie auf lange Sicht betrachtet unfertig.
Die Pointe dieser Sichtweise liegt in der Vergleichbarkeit zwischen angewandter Kunstforschung und Naturwissenschaft. Während die Naturwissenschaften tendenziell daran interessiert sind, mittels ihrer Ergebnisse die Produktion und Verwertung von neuen Lebensformen im Sinne von Patenten dauerhaft zu sichern, ist die Kunstforschung daran interessiert, die Produktivität von Lebendigkeit (Anm.5) in der Gesellschaft insgesamt zu steigern. Kunst ist nicht lebendig, steigert aber die kognitive Beweglichkeit ihrer Nutzer, indem diese genauer auf die möglichen Freiräume von Kunst, aber ebenso auf dann eintretende Folgen ihres Handelns achten. Je unterschiedlicher die möglichen Gemeinsamkeiten formuliert werden, desto eigensinniger und freier versprechen dabei die entstehenden Ergebnisse zu werden – natürlich mit ungeahnten Chancen, aber auch Risiken.
(Anm1) Luc Boltanski, Arnauld Esquerre, Bereicherung. Eine Kritik der Ware. Ffm 2018, S. 222 ff.
(Anm.2) Frances Arnold, SZ, 6./7.Okt. S. 33
(Anm.3) So etwa die Arbeiten der Schweizer Künstlerin Dominique Koch
(Anm.4) Julia Voss, Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837 – 1874. Frankfurt 2007
(Anm.5) Vgl. aus kunsthistorischer Perspektive: Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Ffm. 1977