Lernendes Betrachten – Wie Kunst intelligente Freiräume gewinnt
Heutige Gegenwarten stehen „unter Veränderungsvorbehalt“. Was heißt es gegenwärtig, unter diesem speziellen Umstand, Kunst zu betrachten? Was wird in der Zukunft aus Kunst, wenn künstliche Intelligenz längst angewandt und lebendige Wissenschaft längst keine ‚Fiction‘ mehr ist? Schreiben und gestalten heißt heute immer häufiger zu betrachten, was möglich oder unmöglich geworden ist oder alles noch möglich werden wird.
Was gegenwärtig (als lernendes System) künstlich intelligent handelt, folgt einem Programm, das jeweils selbsttätig Neues hinzulernt. Wer (als dazulernende*r Betrachter*in) Kunst von der Gegenwart, in der sie entsteht, unterscheidet, gewinnt neue Freiheiten und Freiräume. In beiden Fällen geht es um die Kunst zu lernen und um den Glauben an die Fähigkeit, die eigene Zukunft aktiv zu beeinflussen. Ein Leben lang zu lernen, sich kognitiv weiter zu entwickeln, ist längst für sehr viele zur Realität geworden – auch bei der Betrachtung von Kunst.
Zukunft produzieren
Kunst macht Möglichkeiten von Zukunft geistesgegenwärtig. Aber wie genau? Wer schreibt, erinnert sich an aktuelle Möglichkeiten, die die Form des Schreibens anbieten. Wer betrachtet, der denkt nicht an Gegenwart, sondern in Zusammenhängen und Konstellationen, die sich jetzt und hier, neu und unerwartet ergeben können. Betrachten heißt also, Möglichkeiten, die vor mir niemand sah, erkenntlich machen, Räumen eine Form geben, die Spätere zukünftig auf ihre Weise, anders nutzen können. Zukunft produzieren heißt, von einer noch unbekannten Zeit zu künden und schon in einer Zeit zu leben, die längst eingetroffen ist, aber deren Folgen für eine Realität häufig kaum bemerkt oder eingeschätzt wurden. Kunst ist eine Möglichkeit dieser inzwischen veränderten Form von Wirklichkeit einen Ausdruck zu verleihen.
Vergangene Zukunft
Was wird aus Kunst, wenn sie ausschließlich als Ausdruck von Gegenwart, also jetzt, erfahren wird? Wird Geschichte zu einem Anlass, als vergangene Zukunft erinnert zu werden, und wäre Zukunft dann nur noch eine sich endlos sein selbst erfüllende Gegenwart, aus der es kein Entrinnen mehr gibt? Sozusagen eine rasende Gegenwart?
Wer schreibt, erinnert sich immer wieder neu an Möglichkeiten, die die eigene Gegenwart selbstbestimmt ermöglichen. Eine sehr alte Idee der Moderne lautet dabei: Je gegenwärtiger Autor*innen schreiben, umso mehr glauben sie, den Möglichkeiten ihrer Zeit Ausdruck zu geben. Sie werden also im Laufe der Zeit immer ‚möglichkeitsgläubiger‘. Anders gesagt: Im Zweifelsfall glaubt man lieber seinen eigenen, gegenwärtig lebendigen Möglichkeiten, als dass man sich vom Glauben an später kommende Zukünfte verleiten lässt.
Moderne Zeitschifferei
Was die Zeit für die Natur ist, ist der Geist für die Bildung und die Fiktion für deren Darstellung. Was wäre, wenn Kunstgeschichte und Museen nicht immer nur Geschichten von individuellen Meisterleistungen erzählen würden, sondern im Gegenteil ein Raum von unerfüllten Erwartungen, historisch möglich gewesenen Optionen erschaffen würden, um die Gegenwart zu befragen? Was wäre, wenn das Meer in Wahrheit ein Möglichkeitsmeer und die gegenwärtigen Seefahrer*innen in Wahrheit Zeitschiffer*innen sind?
Menschen sind, mit einem berühmten romantischen Bildtitel gesprochen, wie „Wanderer über dem Nebelmeer“ ihrer Zeit. Mit jeder neuen Welle, die gerade tosend heran rauscht und dann leise, ohne Spuren zu hinterlassen wieder zurückläuft, vergeht Lebenszeit – und damit eine Möglichkeit, die ins Ungewisse und Offene weist. Immer schon war die faszinierende Weite des Meeres ein menschliches Bild für sich bietende Chancen und drohende Gefahren. Wolken, die es noch nicht gibt, das Wetter aber permanent beeinflussen, werden heute jeden Tag neu berechnet. Aber auch mit zusätzlicher künstlicher Intelligenz, einem Mantra unserer Jetzt-Zeit, werden Menschen immer wieder neu lernen müssen, sich ihr eigenes Bild einer menschlichen oder nicht-menschlichen Zukunft zu machen.