#MartaonTour: Rom, endliche Stadt
Es ist schon eine große Ehre, wenn plötzlich ein Schreiben der Kulturstaatsministerin auf dem Schreibtisch landet mit der Einladung in die Deutsche Akademie in Rom, die Villa Massimo. Aber was erwartet mich dort und was erwartet man dort von mir?
Ich sah, dass wer „Rom“ sagt, noch die Welt nennt und der Schlüssel der Kraft vier Buchstaben sind: S.P.Q.R. [Senatus Populusque Romanus – Senat und Volk von Rom]. Wer die Formel hat, kann die Bücher zuschlagen. Er kann sie ablesen von dem Wappenschild der vorüberfahrenden Autobusse, von der Platte eines Kanaleinstiegs. Sie ist der Ausweis der Brunnen und der besteuerten Getränke; das Zeichen der einzigen Hoheit, die ohne Unterbrechung die Stadt regierte.
Ja, diese vier Buchstaben SPQR finden sich bis heute in der „ewigen“ Stadt, und wenn man mit der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann (Was ich in Rom sah und hörte, aus: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, München 1981) im Gepäck einmal darauf hingewiesen wurde, dann entdeckt man die souveräne Formel tatsächlich überall im öffentlichen Raum. Rom – für viele Menschen über Jahrzehnte und Jahrhunderte ein Sehnsuchtsort, eine Stadt mit großer Geschichte, südlichem Flair und unermesslichen Kulturschätzen, ein geistiges Zentrum, ein Hort der Inspiration und eine Wiege der städtischen Gesellschaft. Aber was findet man heute wirklich in Rom, jenseits der Klischees, der großen literarischen Hymnen?
Zuerst einmal ist Rom fast gleichbedeutend mit Verkehrsinfarkt, überall drängen sich Busse, Autos, Roller, Reisegruppen und Individualtourist*innen. Wie in vielen anderen Metropolen hat man auch hier Mühe, sich noch ein innerstädtisches Alltagsleben jenseits der lärmenden, tagtäglich in die und aus der Stadt strömenden Menschenmengen vorzustellen. Und zugleich entdeckt man bald auch die Kehrseite, den absoluten Stillstand: Nirgendwo sind Baukräne zu sehen, vieles ist eingerüstet, aber ohne Leben, überall stößt man auf Absperrungen und Baufälligkeiten, ohne dass Arbeiten für Reparatur, Instandsetzung und Neubau erkennbar sind. Es ist ein merkwürdiger Kontrast zwischen dieser Agonie ausbleibender Entwicklung und dem unablässigen Strömen von Verkehr und Menschen, zwischen der hektischen Suche nach den überlaufenen Reiseführer-Highlights und dem Verschwinden eines Alltagslebens, dem Fehlen jeglicher zukunftsgerichteter Weiterentwicklung. Wird aus der ewigen Stadt eine endliche Stadt, eine in pittoresker Schönheit untergehende Destination ohne Zukunft wie Venedig?
Allein im Garten
Um so verblüffender dann das Eintreffen in der Villa Massimo, im nordöstlichen Stadtteil Nomentano gelegen, innenstadtnah und gleich hinter dem ehemaligen Anwesen von Benito Mussolini, der Villa Torlonia, die heute ein Museum in einem öffentlichen Stadtpark ist (übrigens erschreckend unkommentiert und ohne große Hinweise auf die erschütternde Historie).
Die Accademia Tedesca, wie es in Stein gemeißelt am Außentor steht, ist ein Gebäudeensemble in einem großen ummauerten Park, der sich in den vergangenen Jahren in einen geradezu paradiesischen Garten verwandelt hat: Geharkter Kies und getrimmte Hecken, Amphoren, Säulen und Wasserbecken, eine Obstbaumwiese, Blumenrabatten und Zypressenalleen – augenblicklich umfängt einen eine Stille, in der man nur noch Vogelgezwitscher, Wasserplätschern und das leise Rauschen des Windes wahrnimmt, der das Sonnenlicht als tanzende Lichtpunkte durch die üppigen Bäume flackern lässt. Menschen sind weder zu sehen noch zu hören, es ist später Mittag.

Nachdem die wirklich wundervolle Gästewohnung bezogen ist, liegen nun also Tage ohne feste Struktur vor mir – innerhalb des beruflichen Lebens eine äußerst verwirrende Situation, wenn sonst direkt nach der Ankunft bereits die ersten Termine wahrgenommen werden müssen. Bis zu acht Tage darf so ein „Ehrengastaufenthalt“ in der Villa Massimo dauern, ich habe mir fünf gewährt und die liegen jetzt so unbestimmt und herrlich jungfräulich vor mir, dass ich erst einmal durchatmen muss. Was jetzt tun? Ein erster Espresso auf der herrlich beschatteten Terrasse vielleicht, dann ein wenig über das Gelände gehen, schauen, wo die Stipendiat*innen wohnen (von denen ich einige gut kenne) und sich noch ein wenig durch die abendliche Stadt treiben lassen …
Koscher essen
Gleich am nächsten Morgen meldet sich die Künstlerin Sonja Alhäuser und lädt mich auf einen Kaffee zu sich ein. Auch ihr knapp einjähriger Aufenthalt hier endet (wie der der übrigen acht Kreativen aus Architektur, Musik, Literatur und Kunst) in wenigen Wochen und alle sind nun damit beschäftigt, Projekte zu Ende zu bringen, Abschlusspräsentationen zu entwickeln oder noch offene Vorhaben umzusetzen. Sonja Alhäuser beschäftigt sich seit vielen Jahren zeichnerisch, installativ oder in Form von Performances mit der Sinnlichkeit des Essens und dessen Verankerung in den großen kulturellen Zusammenhängen. Für die Villa Massimo hat sie die verwegene Idee eines koscheren Banketts entwickelt, bei dem die milchige und die fleischige Küche sauber getrennt, aber dennoch gemeinsam präsent sind.
Dafür hat sie einen Termin mit einer Köchin und Patrona im jüdischen Viertel in Rom gemacht und ich werde spontan eingeladen, sie mit den beiden Mitarbeiterinnen der Villa zu begleiten. So sitze ich unversehens zu Mittag in einem koscheren Restaurant, in das ich mich wahrscheinlich ohne Begleitung nicht so einfach hineingetraut hätte, das einen aber allein ob seiner mitreißenden Lebendigkeit und dem quirligen Leben um die Tische herum vom ersten Moment an fasziniert. Es gibt gebratene Artischocken, Falafel, Hummus mit Gewürzen, Spaghetti Carbonara mit Entenbrust und Brot in Papiertüten – vor allem aber die mit sämtlichen Blättern doppelt frittierten Artischocken schmecken umwerfend.
Ich lerne im Schnellkurs viel Neues über jüdisches Leben in Rom, koscheres Kochen, Lebensfreude und davon, wo auch künstlerischen Wagnissen bei aller Begeisterung Grenzen gesetzt sind. Das mit der erträumten Hochzeit der Küchen unter der italienischen Sonne wird wohl nicht klappen. (Später erfahre ich aus einer italienischen Zeitung, dass das Bankett tatsächlich im Garten der Villa Massimo stattgefunden hat, aber – und das wurde bereits bei diesem Besuch im Ba’Ghetto der faszinierenden Rosalyn Sermoneta deutlich – nur mit Speisen der fleischigen Küche.)
Maxximale Aufnahmekapazität
Am Nachmittag dann schaue ich mir nach Berlin und Hannover in Rom die dritte Installation von Julian Rosefeldts „Manifesto“ im Palazzo delle Esposizioni an und staune, wie unterschiedlich dieser Künstler, der – ebenfalls Stipendiat der Villa – mich am Abend in sein Studio zum Essen eingeladen hat, die extrem erfolgreiche Videoinstallation in Bezug auf die Choreographie im Raum, den Ton und die Blickachsen jeweils präsentiert. Auch zu sehen ist hier die stark diskutierte Ausstellung „Testimoni dei Testimoni. Ricordare e raccontare Auschwitz“ (Zeugen der Zeugen. Auschwitz erinnern und erzählen). Die sehr suggestive, düstere und mit großem Medieneinsatz arbeitende Inszenierung entstammt der ambitionierten Zusammenarbeit von Studio Azzurro und einer Gruppe von Schüler*innen mehrerer römischer Gymnasien.

Und weil Augen und Ohren noch immer nicht satt sind, geht es schließlich noch weiter zum MAXXI, jenem umstrittenen Museumsgebäude von Zaha Hadid, das mit der lauten, fast überladenen Ausstellung „La Strada. Dove si crea il mondo“ (Die Straße. Wo die Welt entsteht) aufwartet. Viele auch im Marta schon gezeigte Künstler*innen finden sich hier wieder, die eigenwilligen Gefährten von Patrick Tuttofuoco, Videos von Yael Bartana, Werke von Francis Alÿs, Mark Bradford, Sam Durant oder Thomas Hirschhorn. Es ist nicht nur dem voranschreitenden Abend geschuldet, dass man in der Dichte der Beiträge und der seltsam unkonzentrierten Inszenierung rasch ermüdet und auf dem Rückweg zur Sammlungspräsentation mehr auf Hadids gewaltige Treppenlineaturen achtet als auf die letzten Werke der Ausstellung.

Und schließlich sitze ich noch immer freudig erregt, langsam aber auch müder werdend im großen Stipendiatenstudio von Julian Rosefeldt am gemeinsamen Abendessenstisch mit den Kindern. Wir sprechen viel über Rom, über diese „splendid isolation“, die die Villa Massimo bietet, was eine solche Auszeit für das eigene Werk bedeuten kann und wie man mit diesem unerwarteten Manifesto-Erfolg umgehen kann.
Ein anderer akademischer Diskurs
Doch der Gastaufenthalt in der Villa Massimo hat auch einen Preis: Selbstverständlich müssen Reise- und Verpflegungskosten selbst übernommen werden, aber darüber hinaus wird ein Beitrag zum akademischen Leben zum Beispiel in Form eines Vortrags für die Stipendiat*innen und Gäste erwartet. Ich hatte mich lange im Vorfeld damit beschäftigt, was ich in dieser Hinsicht mit nach Rom bringen könnte, angefangen bei Geschichte und Programmatik von Marta Herford über unsere Ideen und Impulse zum Museum der Zukunft, die Aktivitäten zum Streit um Bild- und Urheberrechte bis hin zur Präsentation eines lang diskutierten Projekts, das mir sehr am Herzen liegt: „Die Realität … ist absurder als jeder Film“, eine großangelegte Ausstellung in unseren Gehry-Galerien rund um fünf Videoinstallationen israelischer Künstler*innen.
Schließlich half ein Anruf bei Sonja Alhäuser weiter: Sehr diplomatisch und elegant durch die Blume gab sie mir zu verstehen, dass diese regelmäßigen Vorträge nicht unbedingt immer auf pure Begeisterung bei den Anwesenden stoßen. Vielmehr erhoffe man sich von Gästen wie mir eigentlich, dass man sich Zeit für die Arbeit der Stipendiat*innen und für individuelle Begegnungen nähme. So entstand die Idee eines kleinen Parcours durch die Studios, an dessen Ende dann eine große Tafel mit gemeinsamem Essen im Atelier von Sonja Alhäuser stehen würde.
Spaziergänge zu Kunst und Kulinarik
Also bin ich nach den bereits erwähnten Begegnungen noch mit Wolfgang Ellenrieder durch seine gerade in den hauseigenen Räumen installierten Ausstellung gegangen und habe mit ihm ausführlich über das Verhältnis des gemalten Bildes zu den digitalen Repräsentationsformen, über das Prinzip der Collage in einer porös gewordenen Wirklichkeit diskutiert. Ich saß ausführlich im Atelier von Erik Göngrich vor seinem Bildschirm und einer großen, materialreichen Gestellwand, die auf vielfältige Weise seine aktuelle Auseinandersetzung mit dem Stadtraum, den urbanen Bedeutungsschichtungen und seinen fotografischen Spaziergangserkundungen reflektierte. Und ich habe den Architekten Lars Krückeberg besucht, der mit seinem Büro Graft Architects bereits Gast der Marta-Reihe „Stadt + Vision“ war und mir sein römisches Langzeitprojekt eines „Katoprischen Medians“ erläutert: Eine poetische Vermessung der Raumzeit seines Massimo-Ateliers in Form einer eigenwilligen Sonnenuhr.

Mit Erik Schmidt schließlich bin ich abends eher zufällig in einem kleinen namenlosen Fischrestaurant gelandet und habe mit ihm nicht nur hervorragend gegessen, sondern bis tief in die Nacht unter anderem über Gott, Rom und die etwas absurde Frage, ob und wie man Berlin noch malen kann, philosophiert. Sehr gerne hätte ich eigentlich auch noch länger mit den beiden Musiker*innen Anna Korsun und Samy Moussa sowie den Schriftstellern Thomas von Steinaecker und Nico Bleutge gesprochen, das ließ sich jedoch in der Kürze der Zeit am Ende nicht mehr verabreden. Aber die große Tafel am letzten Abend vor meiner Abreise hat sie noch einmal (fast) alle zusammengebracht, und ich werde diese römische Frühsommernacht mit Sonjas Koch- und Gastgeberinnenkünsten, mit viel Wein, Gelächter und schönen Anregungen noch lange in Erinnerung behalten.
Was ich noch zu sagen hätte …
Ja, und dann gäbe es noch davon zu berichten, wie ich nahezu allein um 6.30 Uhr in der Morgensonne auf dem vatikanischen Petersplatz stand, wie mich im touristischen Gewühl in der Sixtinischen Kapelle dennoch die Erhabenheit berührte, was das schrecklichste Gebäude von Rom ist, wie Kreuzigung und Kreuzabnahme von Guido Reni und Caravaggio einen überwältigenden Dialog führen, wie weh die Füße und wie leicht der Geist sich nach dem Besuch von gefühlt 20 Barockkirchen anfühlen, wie man eine geradezu despektierliche Ausstellung von Giacomo Balla inszenieren kann, was man alles tut, wenn man „nichts“ tut, wie ich mit dem scheidenden Villa-Massimo-Direktor Joachim Blüher ein wehmütiges Gespräch auf der Dachterrasse führte oder was das Kolosseum mir verweigerte. Aber das sind andere Geschichten, für die dieser Blog-Beitrag schlicht keinen Platz mehr hat.

Senat und Volk von Rom – SPQR – sie verfügen immer noch über eine schier unglaubliche Stadt, über atemberaubende Orte, die man zumindest als „ewig“ erleben kann, auch wenn man immer wieder mit den Endlichkeiten konfrontiert ist: Blüher geht nach 16 Jahren und Julia Draganovic übernimmt nun die Leitung der Villa Massimo; mein Aufenthalt dort war definitiv zu kurz und deutlich zu früh zu Ende …