„Meine Reise durch Zeit und Raum in die virtuelle Welt“
Meine Reise in die virtuelle Welt startete mit einem befremdlichen Gang durch den Korridor eines Krankenhauses… und das mitten im Museum.
Endlich war es so weit. Länger schon hatte ich diesem Moment entgegengefiebert. Ich wollte ihn unbedingt sehen: den VR-Film von Omer Fast in der neuen Marta-Ausstellung „Die Realität … ist absurder als jeder Film“. Ich ließ mir (wie vom Künstler gewünscht) an der Anmeldung in der Installation von Omer Fast einen „Termin“ geben: 12 Uhr. High Noon – wie passend für mein Erlebnis. Die freundliche „Sprechstundenhilfe“ vom Besucherservice des Museums händigte mir eine „Behandlungsvereinbarung / Einverständniserklärung“ aus.
Die unsichtbare Hand – ein Film der anderen Dimension
Dort stand zu lesen: „Die unsichtbare Hand: Ein achtjähriges Mädchen erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Fall ihrer Familie in der Volksrepublik China. Der 13-minütige Film ist im Rahmen dieser Ausstellung in einem eigens dafür geschaffenen Behandlungsraum mit einer Virtual-Reality-Brille zu sehen. Besucher*innen werden gebeten, dieses Formular auszufüllen, um eine private Vorführung zu buchen. Bitte überspringen Sie alle Fragen, die Ihnen zu persönlich oder irrelevant erscheinen.“
Heimgesucht von der Beklemmung eines Krankenhauses
Die Frage, ob ich das Gefühl habe eine Versagerin zu sein oder meine Familie enttäuscht zu haben, war mir eindeutig zu persönlich und ich überging sie geflissentlich. Auf was hatte ich mich hier bloß eingelassen!? Ich lief den nachgebauten Klinikgang hinunter zu „meinem Behandlungszimmer“ und mich überkam jenes beklemmende Gefühl, das mich stets verlässlich in jedem Krankenhaus heimsucht. Nur, dass es dieses Mal kein Krankenhaus war. Es war ein Museum, eine Ausstellungsgalerie, in der ich schon hunderte Male zuvor gestanden hatte, schließlich ist das ja mein Arbeitsplatz! Die Raumillusion im Marta war einfach unglaublich gelungen! Unfassbar und befremdlich zugleich. Nur weiter, dachte ich tapfer mit einem Augenzwinkern. Ich setzte mich auf die Stuhlreihe vor dem Behandlungsraum und schon kamen zwei weitere „Patienten“. Wir unterhielten uns auf eine gewohnt unverbindliche Art… wie man das beim Arzt halt so macht. Es war verblüffend!
Und plötzlich befand ich mich in einer anderen Welt
Im Behandlungszimmer setzte der „Arzt“ im weißen Kittel uns die VR-Brillen auf und gab eine kurze technische Einweisung. Nach dem Anvisieren einer bestimmten Zone im VR-Film startete dieser prompt und ich fand mich Auge in Auge mit dem achtjährigen chinesischen Mädchen, das die Geschichte ihrer Familie erzählte. Im Nu war ich mitten im Geschehen, folgte ihr in schummrige Gassen, grüne Parklandschaften und ins traute Familienwohnzimmer. Alles Orte, an die ich im Laufe meines Lebens vermutlich nie kommen würde. Und das alles von einer Minute auf die andere.
Atemberaubender Ausblick mit Suchtcharakter
Urplötzlich befand ich mich in schwindelerregender Höhe eines Wolkenkratzers, der Ausblick war atemberaubend und machte Lust auf mehr. Immer wieder drehte ich mich auf meinem Stuhl um 360 Grad, um nur ja nichts vom Geschehen zu verpassen. Das zierliche Mädchen im Nachthemd hinterließ jedoch einen ambivalenten Eindruck in mir, so ganz nahe kommt man im wirklichen Leben ja nur wenigen Menschen…
Vis-à-vis mit einem Geist
Von meiner leicht erhöhten Perspektive aus wurde ich schließlich Zeugin der Schlüsselszene des Filmes und kam dem Geist, der die Wende der Geschichte brachte, mehr als nahe. Er war fast greifbar für mich mit seinem eindringlichen Blick und seinen unmissverständlichen Gesten. Kein Wunder, dass die Moral der Geschichte mir dann auch direkt unter die Haut und unmittelbar in meine Gedankengänge ging: Ein Leben ohne Lügen, so sinnierte ich im Anschluss an den Film, wie wäre das wohl? Diese Frage beschäftigte mich noch längere Zeit und hallt auch jetzt in dreidimensionalen Filmbildern in mir nach, während ich diesen Blogbeitrag schreibe. Was, so denke ich weiter, macht VR mit mir? Was kann Virtual-Reality, was in der analogen Welt nicht möglich ist?
Digital oder analog? Was sollen wir wollen?
Und plötzlich kann ich die Zukunftsbegeisterung der Futuristen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gut verstehen. War das im Behandlungsraum von Omer Fast ein Blick in die Zukunft? In meine Zukunft? Und schlussendlich die Frage nach diesem digitalen Virtual-Reality-Erlebnis in der Kunstwelt: Wo möchte ich mich auf das Digitale einlassen, und wo bleibe ich lieber analog? Eine spannende Zeit, in der solche Dinge gerade mal am Anfang ihrer rasanten Entwicklung stehen. Gut, dass das Museum einmal mehr die Gelegenheit aufzeigt, über eine wegweisende Fragestellung im Leben nachzudenken!