Multiviewing: Was uns bei der Begegnung mit Kunst begegnet
Wer sich sein jeweiliges Gegenüber – Menschen, Produkte, Texte oder Kunstwerke – etwas genauer, sagen wir einmal zielgerichteter, anschaut, wird in jedem Moment ganz unterschiedlich und unterschiedlich in seiner ganzen Person heraus gefordert.
Betrachten verkörpert heute eine komplexe geistige Leistung und bedeutet inzwischen immer auch: sich zu erinnern, wie man zum ersten Mal etwas Unbekanntem begegnete…
Handelndes Betrachten und imaginäres Besitzen
Treffe ich etwa in einem Online-Shop auf ein cooles Produkt oder aber in einem Museum auf ein faszinierendes Kunstwerk, dann kann ich eine Erfahrung machen, die viel über die Wahrnehmungsbedingungen unserer Zeit verrät. Aus der unendlichen Fülle von gesammelten Eindrücken entsteht manchmal ganz plötzlich das subjektive Gefühl oder auch geradezu die Gewissheit: Genau!! Das habe ich immer schon gesucht! Oder im Fall von Kunst: Das ist ja ein unglaublich starkes Werk!
Was ist in dieser Begegnung gerade mit mir als handelndem Betrachter passiert? Wie kann ich jetzt und in meinen eigenen Sätzen beschreiben, was zum Bild meines Zugangs – dem eines Kunstwerks – gehört? Bin ich nicht nur Betrachter, sondern in Wahrheit nicht auch schon Besitzer, indem ich genauer beschreibe wie ich es mir jetzt, auf meine eigene Weise aneigne?
Da hier jetzt plötzlich so vieles und so vieles gleichzeitig geschieht, beschreiben wir es noch einmal langsamer, in einer Art nachdenkenden Zeitlupe: Begegnen wir etwas, was uns absolut begeistert und inspiriert, dann passieren wie gesagt viele Dinge gleichzeitig: Wir vergleichen das Objekt mit dem, was wir schon kennen, wir fragen uns nach dem Reiz, den das Unbekannte auf uns ausübt, und wir greifen irgendwie spontan nach Assoziationen und anderen Bildern, mit dem wir dieses Neue und Faszinierende vergleichen und in unsere Sprache übersetzen können. Das heißt: Wir handeln im Grunde wie im Zustand einer bewussten Offenbarung, einer Form von Geistesgegenwart. Wir suchen nach einem Moment, in dem uns das faszinierende Objekt die Welt um uns herum in einem anderen, neuen Licht erscheinen lässt. Das kann sich übrigens sogar auf Abwesendes beziehen. „Solange man lebt, sind die Toten nicht tot“, hat Alexander Kluge kürzlich formuliert. Entscheidend dabei ist, dass man sich erinnern kann.
Visuelles Multitasking
Wer sich beispielsweise erinnert, wie er zu ersten Mal in seinem Leben von einem Kunstwerk begeistert war, der wird das auch Jahre später können. Ich bin 1977 auf der damaligen documenta einmal kurz (und nie wieder) Joseph Beuys begegnet und fühlte mich damals wie heute als würde ich wie unter einem Bann stehen. Das Schöne an einer besonderen Begegnung mit einem Bild oder allgemein mit etwas Neuem ist, dass man in ganz kurzer Zeit sehr viel Neues und Unterschiedliches erfährt. Man betreibt also visuelles Multitasking oder wenn man so will: eine Art nachdenkendes Multiviewing.
Ein Kunstwerk unterscheidet sich vom Leben dadurch, dass ein Betrachter sich immer wieder neu fragen kann: Wie, was und wie viel passiert hier eigentlich jetzt, in dem Moment, indem ich versuche alles, was ich betrachte, auch zu verstehen? Man handelt also, als ob man mit dem Gegenüber eines Kunstwerks ein bewusstes Multiviewing betreibt, und entdeckt manchmal erst viel später, dass man eben damit in seinem Leben rückwirkend etwas entdeckt hat, was mit unserer Suche nach Sinn und Relevanz zu tun hat: mit dem, woran ich mich wahrscheinlich noch erinnern werde, wenn es längst Vergangenheit geworden ist. Kunstwerke, die uns begeistern, sind dafür da, dass man sie „lange und wiederholtermaßen betrachten“ kann, um immer wieder Neues zu entdecken. Dieses Zitat stammt jetzt nicht etwa von heute, sondern aus einem der spannendsten Texte, die im 18. Jahrhundert über Kunst geschrieben wurden: aus Gottlieb Ephraim Lessings Laookon oder die Grenzen der Malerei und Poesie (1766). „Was das Auge mit einem Male übersiehet, zählt der Dichter uns merklich langsam nach und nach zu, und oft geschieht es dass wir bei dem letzten Zuge den ersten schon wieder vergessen haben.“ Mit heutigen Worten: Man braucht Zeit, um zu verstehen, wie wir uns etwas komplexes Ganzes vorstellen, während wir es betrachten. Und noch kürzer könnte man fragen: Was ist für uns gerade relevant?
Das Relevante und das Ausgegrenzte
Überhaupt Relevanz: Jeder, der heute aktiv lebt und arbeitet, steht unter dem Druck das für ihn gerade Passende, Relevante zu erkennen. Auch in einer Ausstellung ergeht es mir manchmal ähnlich: Ich suche immer nach einem Werk, das mich fasziniert und berührt, das mich an etwas erinnert, was ich immer erst noch kennen lernen will, und manchmal auch etwas, das mir die Frage stellt, was Kunst mit meinem eigenen Leben zu tun hat. „Kunst ist die Fähigkeit Sachlichkeit mit Empathie zu verbinden.“ (Alexander Kluge) Das klingt zwar stark romantisch, gefällt mir aber trotzdem. Vielleicht weil es gerade heute so relevant klingt.
Ob in der Wirtschaft, der Politik, im Büro oder im stillen Gespräch mit sich selbst: Kommunikation ist menschlich und kostet viel Zeit. Vor allem aber macht Kommunikation einen Mangel deutlich – eine permanente Nachfrage nach Relevanz. Wenn, wie heute, alle nach dem möglichen Relevanten im eigenen Leben, in der Arbeit und besonders in der Politik suchen, dann zwingen wir uns immer, etwas, was uns jetzt wichtig erscheint, zu betonen und damit gleichzeitig das Andere, Nichtrelevante – ob man will oder nicht – auszugrenzen. Wenn man das einmal begriffen hat, ist man sich schon wieder etwas mehr auf die Schliche gekommen. Relevant ist also das, wonach man jetzt gerade sucht – und sei es in der Begegnung mit einem Werk, das man so noch nie wahrgenommen hat.