Radikal sein – aber wie?
Was bedeutet es eigentlich „radikal“ zu sein? An welchen Kriterien kann man die Bedeutung des Wortes festmachen? Michela Lupieri, wissenschaftliche Mitarbeiterin der aktuellen Ausstellung „Rebellische Pracht“, versucht sich an der Definition dieses offenen Begriffs, der auf vielfältige Weise interpretiert werden kann und zumeist genau aus diesem Grund verwendet wird, um ein breites Spektrum verschiedener Praktiken und Projekte zu umfassen.
Mitte der 1960er Jahre wurde die gesamte westliche Welt von einer Welle politischer, musikalischer und künstlerisch-kultureller Umbrüche erfasst. Es sind die Jahre des Wirtschaftsbooms, der Hippiebewegung und der Gegenkulturen, der Studentendemonstrationen sowie der Land-Art und Konzeptkunst. Im akademischen Sektor kommt es zum Bruch mit einem System, das auch für die Ausbildung zukünftiger Designer*innen ausgedient zu haben scheint. In Italien wurden Gestalter*innen, die zwischen 1966 und 1976 tätig waren, als „radikale Experimentierer*innen“ bezeichnet, weil sie sich von der Vergangenheit lösten und neue Denkweisen für ihre Projekte entwickelten.
Definitionsprobleme
Etymologisch leitet sich das Wort „radikal“ vom spätlateinischen Begriff radicalis (von radix, -icis, dt. „Wurzel“) ab. In der Botanik bezeichnet die Wurzel den unteren Teil einer Pflanze, der in die Tiefe wächst und sich dort ausbreitet, um Nährstoffe aus der Erde aufzunehmen. Dieser Bezug zur Pflanzenwelt veranlasste mich, die Bedeutung des Wortes „Untergrund“ auch in Bezug auf das radikale Design zu untersuchen, das sich damit von der Substanz entfernt und zu einem Synonym für Distanz und Nebensächlichkeit wird. Denn in diesem Sinne radikal war auch die Abkehr von der Disziplin und einer bestimmten Lesart der Architektur. Auch das englische Wort „underground“ bedeutet Untergrund und es steht für eine Reihe von Praktiken, die den gemeinsamen Zweck verfolgten, sich der dominanten Kultur entgegenzustellen. Radikale Designer*innen wurden als „underground“ bezeichnet, weil sie, obwohl viele von ihnen ausgebildete Architekt*innen waren, ihr Handlungsfeld ausdehnten und Design in eine konzeptionelle, oft utopische Praxis verwandelten, die sie in den Dienst der Gemeinschaft stellten.
Ein Mosaik von Experimenten
Der Akt des „Bauens“, der für gewöhnlich mit dem Errichten von Gebäuden verknüpft ist, wurde erweitert um eine nicht einheitliche Produktion von Objekten („Cool lights“ von UFO), Zeitschriften („The Utopia fotoromanzo“ von Strum), Zeichnungen („Istogrammi d’architettura“ von Superstudio), transdisziplinäre Theorien und Methoden („Il commutatore“ von Ugo La Pietra), partizipative Happenings im öffentlichen Raum („Wearable chairs“ von Gianni Pettena) und speziellen Einrichtungsgegenständen („Safari“ und „Superonda“ von Archizoom). All dies zerstörte die Aura des Produkts als Objekt und Design wurde zu einem Instrument, um das gesamte Tätigkeitsfeld, die Gesellschaft und ihre Bedürfnisse zu erforschen. Außerdem ermöglichte der Einsatz neuer Materialien wie Polyurethanschaum die Herstellung skulpturaler Objekte für das Wohnzimmer, die als eine Mischung aus Kunstwerk und Einrichtungsgegenstand (z.B. „Pratone“ von Strum und „Tappeti natura“ von Piero Gilardi) die Grenzen dieser Disziplin weiter öffneten.
The New International Style
Eigentlich entstand die Verbindung zwischen dem Begriff „radikal“ und dem Designbereich erst später, als Andrea Branzi und Germano Celant im Jahr 1973 die Notwendigkeit verspürten, diesem Mosaik aus Experimenten einen Namen zu geben. Radikales Design war keine Bewegung, sondern vielmehr ein Ensemble von Individuen, Designkollektiven, Absichten und Verhaltensweisen: Eine energiereiche Welle, die Design- und Architekturprojekte, bildende Kunst und die soziale, politische und kulturelle Sphäre mit dem Alltagsleben verschmolz. Die Überflutung der Stadt Florenz im Jahr 1966 durch das Übertreten des Arno stand metaphorisch für den Beginn dieser Ära. Ein Fluss aus Schlamm und Schutt bedeckte die Stadt, die als Inbegriff der Renaissance und der formalen Strenge gilt, und inspirierte die kurz zuvor gegründeten Architekturbüros Superstudio und Archizoom zu der Ausstellung „Superarchitettura“ in der Galerie Jolly in Pistoia. In zwei Kellerräumen entstand ein Universum verfremdeter Objekte mit poppigen Formen, fantastischen Illustrationen und dystopischen Visionen, ein Phänomen, das in den nachfolgenden Jahrzehnten in den Gruppen Alchimia (1976) und Memphis. The New International Style (1981) seine direkten Nachfolger fand.
Die Radikalisierung der Form
Anders als bei den „radikalen Experimentierern“ der 1960er und 70er Jahre, die das Design als Mittel zur Erkundung des gesamten Tätigkeitsfeldes verwendet hatten, rückten Alchimia und Memphis das Alltagsobjekt wieder in den Mittelpunkt. Dennoch ist auch hier ein gewisses Maß an Radikalität vorhanden, obgleich es sich hier auf formale Aspekte bezieht. Alchimia verwandelte Alltagsgegenstände in unwahrscheinliche, provokante und kitschige Produkte und lieferte die Grundlage für eine Theorie des „Redesigns“ und „Banaldesigns“. Die Gegenwart mischte sich mit der Vergangenheit und Designklassiker wurden mithilfe von Bildern oder Dekors neu interpretiert, wie in den Kollektionen „bau. haus I und II“ von 1979. Die alchemistischen Mutationen erfolgten auch durch den Einsatz von Kunststofflaminaten auf den Oberflächen von Produkten, die gewöhnlich für Böden im Außenbereich oder Gebrauchsflächen von Bars benutzt wurden. Die Verwendung dieses Materials ironisierte die vermeintlich formale Strenge des Objekts und spielte mit der Frage von Wertigkeiten. Die Abkehr von den Grundlagen des Funktionalismus (form follows function, dt.: die Form folgt (aus) der Funktion) und der formalen Strenge fand ihren maximalen Ausdruck in den skandalösen Formen und den frechen und poppigen Objekten der Gruppe Memphis. Durch sie erlebte das Design eine neue, radikale und einzigartige Transformation und wurde zu einer eigenständigen künstlerischen Ausdrucksform, die dem Objekt eine bis dahin nie dagewesene ästhetische Kraft verlieh.
Anthologie Quartett
All dies kennzeichnet die Ausstellung „Rebellische Pracht – Design-Punk statt Bauhaus“ aus und die Objekte von „Anthologie Quartett“ sowie deren einzigartig verschiedenartige Sammlung, in der Kunst, Design, Architektur, Einrichtungsgegenstände und äußerst wertvolle Dokumente zusammenkommen. Die Sammlung entstand aus der Leidenschaft von Rainer Krause und Michael von Jakubowski, ist später in die Sammlung von Egidio Marzona übergegangen und gehört heute zum Bestand des AdA – Archiv der Avantgarden in Dresden. Diese einzigartige Sammlung vereint internationales Design und ist aus diesem Grund ein greifbarer Beweis für die enorme Welle der Erneuerung, die die Kunst und das Design im 20. Jahrhundert ergriff.
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