Social distancing: Zukunft bildet – das Publikum
Wir alle reden vom Publikum – gerade heute, wo die Museen und Theater geschlossen sind und Ausstellungen und Aufführungen zu Hause am privaten Rechner stattfinden. „Besucher*innen“ werden online durch Ausstellungen geführt – die ausgestellten Kunstwerke sind nur imaginär und häufig auch nur als Trigger für Anderes, Neues und Überraschendes zu erleben. Was wird zukünftig fehlen? Wo ist und was wird unter diesen Bedingungen das zukünftige Publikum? Was und vor allem wie wird es zukünftig Ausgestelltes als Kunst betrachten, wenn der primäre Zugang digital vermittelt sein wird?
Wahr ist jetzt geworden, was Walter Benjamin und Bertolt Brecht im frühen XX. Jahrhundert schon vorhersagten: Jede*r kann potentiell zum Autor/Produzent beziehungsweise zur Autorin/Produzentin werden und jede*r ist Teil eines Publikums aus selbstbewusst Rezipierenden. Wer heute – gerade im Kultur- und Kunstkontext – vor einer Webcam sitzt und kommuniziert, die*der ist zugleich Sender*in und Empfänger*in. Die früher so eindeutig getrennten Rollen von Autor*in und Publikum sind so nicht mehr vorhanden. Aber wo ist und was macht das Publikum gerade hier und heute? So könnte eine aktuelle offene Fragestellung lauten, die Nerds und anderen Insidern sicher gefallen würde, die eher Außenstehenden des Kulturbetriebs aber vielleicht denken lässt: DIESE Probleme möchte ich jetzt nicht auch noch haben.
Alles, was jetzt plötzlich technisch machbar und vorstellbar geworden ist und wie aus einem Nichts heraus entsteht und gelingt, entsteht aus sich selbst: einem (sozialen) Problem, das mehr (technische) Lösungen kennt als dem Problem selbst bisher bewusst war. In der heutigen Corona-Wirklichkeit wird es möglich (und wohl auch notwendig), die reale und die digitale Kunstwelt zu verlinken – doch mit welchen Folgen für die Rezipierenden und für das Bild, das wir von uns selbst als Publikum entwickelt haben? „Wer jetzt vor seinem Bildschirm alleine ist, der wird es lange bleiben“, raunt gerade Richard David Precht in der ZEIT (2. April, 2020, S. 46)
Das entstehende und verschwindende Publikum
Kunstwerke, die NICHT vom und mit einem Publikum reden (von ihm handeln oder es sonst irgendwie herausfordern, provozieren etc.) gibt es natürlich nicht. In Zeiten wie heute aber schon. Heute werden Ausstellungen eröffnet, die kein reales Publikum mehr haben, aber online durchaus ein neuartiges Publikum erzeugen. Das Zauberwort heißt momentan ZOOM und ist eine Meeting-App, die einzelne Personen im Netz temporär zusammenschaltet – also ein Publikum erzeugt, das entsteht und nach kurzer Zeit gleich wieder verschwindet.
Worin besteht aber eigentlich der Reiz, sich heute eine Situation vorzustellen, die es nicht geben kann, weil es eine neue Situation in der digitalen Realität gibt – und gleichzeitig auch nicht? Kunst entsteht öffentlich, also für ein Publikum, indem sie zunächst noch nicht als Kunst erkennbar wird – sondern erst aus einer gewissen sozialen und historischen Distanz öffentlich gebildet wird. Erst jetzt und heute begreifen wir, was – gerade im und für den Kulturbereich – social distancing heißt. Dass uns etwas fehlt, was wir vorher kaum bemerkt haben.
Zukünftige Erwartungen des Publikums
Kunst, die einem Publikum einen Zugang NICHT bietet oder diesen erschwert, gibt es nicht – sie entsteht gerade heute woanders: vorzugsweise im virtuellen, zukünftigen Raum – dort wo etwas fehlt (Nähe) und wo zugleich etwas Unerkanntes entsteht: Das intuitive Gefühl, dass – wie jetzt gerade – wie aus einem Nichts – etwas Neues, mit Sicherheit aber etwas Zukünftiges entsteht. Ob eine Ausstellung, die in dieser Zeit nur online existiert (und online bisher als Teaser ein reales Publikum ins Museum locken wollte), Sinn macht oder nicht, darüber lässt sich vortrefflich streiten.
Catrin Lorch hat gerade in der SZ (Verlustschätzung, 27. März 2020) darauf hingewiesen, dass beispielsweise die aktuelle Installation der indischen Künstlerin Sheela Gowda kaum angemessen online abzubilden und zu vermitteln ist. Doch geht es wohl auch mehr als um die Frage der angemessenen Abbildbarkeit. Es geht um das grundsätzliche Problem, welche erweiterten Kompetenzen zukünftig ein Publikum für den Fall ausbilden kann, in dem die Erfahrung von Kunst tendenziell immer weniger an die Aura eines Originals und immer mehr auch an die Entdeckung eigener unbekannter Fähigkeiten im Umgang mit Kunst gebunden sein wird. Oder zugespitzer formuliert: Kunst wird vom Publikum nur noch zum Anlass genommen, um sich selbst neu zu erfahren; das Werk wird – zumindest tendenziell – zum letztlich beliebigen Beiwerk. Das Publikum, so wie wir es kennen, wird also zu einer immer anspruchsvolleren Haltung gegenüber sich selbst und seiner Einstellung gegenüber Kunst angeregt. Es existiert zukünftig umso aktiver insofern es sich im digitalen Raum – auch über unsere eigenen Haltungen gegenüber Kunst – austauschen kann. „Haltungen beziehen sich auf Wirkliches; wer sie gestaltet, muss Wirklichkeit mitgestalten, sonst sieht man nicht, wozu die Haltung sich verhält.“ (Dietmar Dath, FAZ online)
4 Replies to “Social distancing: Zukunft bildet – das Publikum”
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Lieber Michael Kröger,
vielen Dank, dass Sie uns an Ihren Gedanken teilhaben lassen. Wir brauchen nämlich gerade jetzt auch den Diskurs. Damit wir die Situation von Kultur in Zeiten von Corona bewerten können, uns auch tiefer mit ihr auseinandersetzen und nicht nur von den Ereignissen getrieben werden. Deswegen schätze ich den Text sehr. Ich möchte aber auf einige Aspekte eingehen und Ihnen da auch widersprechen.
Sie sprechen von Kunstwerken, die online gezeigt kein reales Publikum mehr haben, aber durchaus ein neuartiges Publikum erzeugen. Hier würde ich behaupten, dass dieses Publikum nicht unbedingt neuartig ist. Es überschneidet sich doch sehr mit dem Publikum, das sich auch im analogen Raum mit Kunst auseinandersetzt. Und dass man sich nach einem ZOOM-Meeting, das eine gute Stunde dauert (oder oft auch länger, weil man ins Plaudern kommt), wieder anderen Dingen zuwendet, das kennen wir doch von Museumsführungen genauso, oder etwa nicht? Das wäre jetzt in meinen Augen kein Argument, das auf eine besondere Flüchtigkeit des digitalen Publikums hinweisen würde.
Ganz entschieden widersprechen möchte ich aber der generellen Aussage: „Kunst wird vom Publikum nur noch zum Anlass genommen, um sich selbst neu zu erfahren; das Werk wird – zumindest tendenziell – zum letztlich beliebigen Beiwerk.“ Abgesehen davon, dass ich es schon immer spannend fand, wenn die Begegnung mit Kunst auch zu einer gewissen Selbsterfahrung führen kann, sehe ich in dieser Aussagen eine qualitative Abwertung der Auseinandersetzung mit Kunst, wenn sie im digitalen präsentiert wird. Vielleicht spielen Sie auch auf Ideen von Co-Creation an, in denen sich die Rezeption eines Kunstwerkes in der kreativen Gestaltung eigener Aussagen zum Kunstwerk zeigt. Ich denke, dass es viele unterschiedliche Ebenen der Auseinandersetzung mit Kunst geben kann und soll – auch im digitalen Raum. Und dass dies nicht unbedingt beliebig sein muss. Im Gegenteil, manchmal kann es sogar zu einer tieferen Auseinandersetzung führen.
Danke aber noch einmal für den anregenden Text und herzliche Grüße
Anke von Heyl
Liebe Anke von Heyl,
herzlichen Dank für Ihre kritische Einwände! Die aktuelle Erfahrung einer Art erweiterten „Kunst-Online-Beziehung“ suggeriert uns auf den ersten Blick eine neue Nähe zur Kunst. Und auf den Zweiten? Vielleicht ist ja diese Beziehung wirklich nicht neuartig aber sie ermöglicht uns zumindest Fragen zu stellen, die Zweifel wachrufen, Unsicherheiten verstärkt und so unser Bewusstsein erweitert. Die Fragen, die ich mir gerade verstärkt stelle, lauten ungefähr so: Wie verändert sich mein eigenes „Bild“ von Kunst, wenn es neben der realen, dinglichen Präsenz in Zukunft vor allem mehr und mehr digital präsentiert werden wird? Was genau ist das für eine Art von „Neuer Nähe“, die uns ja paradoxerweise erst durch die aktuelle Distanzierung nahe gebracht wird? Welche Zukunft kündigt sich hier an und wie gehen wir, das Publikum, mit dieser konkret um? Damit verbunden stellt sich mir die nächste Frage: Was bedeutet es unter diesen, wenn auch nicht neuen aber offenbar verschärften Umständen einen eigenen, individuell gesteigerten Zugang zur Kunst zu finden? Gibt es in Zukunft vielleicht noch weitere, noch intensiver getriggerte, individualisierte Kunstformate – das Bild einer vorherrschenden Kunst u n d zusätzlich meine Version eines selbst produzierten Zugangs zu einer jetzt veränderbar gewordenen Form von Kunst? Und ebenso wird offenbar auch die alte Frage nach der Exklusivität von Kunst als Problem eines egalitären Zugangs zur Kunst neu verhandelt. Hängt die Zukunft einer Kunst, unsereren diversen Künsten, nicht in erster Linie von uns, unseren Fragen ab, die wir – ob zweifelnd, verunsichert oder fasziniert – an diese richten? Zu einer angemessenen Haltung gegenüber Kunst gehören, finde ich, weniger gesicherte Antworten und schlaue Statements als gezielte Fragen, die Unruhe in uns und anderen stiften. In diesem Sinne – lassen wir uns weiter von unseren eigenen, produktiv gewendeten Zweifeln anstecken und irritieren ….
Herzlich Grüße sendet Ihnen
Michael Kröger
Lieber Herr Kröger,
der Gedanke des neu Verhandelns gefällt mir sehr gut. Ich stelle immer wieder fest, dass sich in der Begegnung mit Kunst bestimmte Erwartungen und Verhaltensroutinen manifestiert haben. Diese gilt es aufzubrechen. Und ja, man sollte sich, seine Meinungen und Haltungen immer kritisch hinterfragen. Deswegen schätze ich auch dieses Blog hier sehr. Wir müssen agiler werden. Im Denken und auch im Handeln.
Herzliche Grüße
Anke von Heyl
Wird der Künstler im Sinne einer Haltung von Benjamin oder Brecht nicht zum reinen Impulsgeber „degradiert“? Ich traue den meisten Künstlern mehr zu. Vor allem kann die Onlineerfahrung nicht das ästhetische und sinnliche Erlebnis vermitteln, das ein Kunstwerk bieten kann. Dietmar Dath geht dagegen von einem exklusiven und sehr konzentrierten Kunstverständnis aus, wie es nur einem kleinen Teil des Publikums nachvollziehbar und möglich sein wird. Kunst wird da (wieder?) elitärer. Das wollen wir eigentlich ja nicht, oder? … Es wäre schön, wenn wir gerade jetzt noch mehr Wege zwischen Banalität und Elitarismus finden könnten, um ihren Wert besser zu vermitteln. Die Künstler und ihre Unterstützer haben das verdient – jetzt mehr denn je!