Stille Orte der Kunst: Marcel Duchamp und Sarah Lucas
Mit einer genialen Frechheit hat sich Marcel Duchamp vor hundert Jahren ein Denkmal gesetzt. Der Künstler signierte ein handelsübliches Pissoir mit dem fiktiven Pseudonym R. Mutt und nannte es „Fountain“ (Brunnen).
Diese unwahrscheinliche Geschichte hätte sich ebenso gut als Lüge entpuppen können und zählt heute zu den denkwürdigsten Momenten der jüngeren Kunstgeschichte. Das dysfunktionale Pissoir sollte, als Objekt auf einen Sockel gestellt, sein Beitrag für die Ausstellung der New Yorker Society of Independent Artists sein. Die Jury lehnte das Pissoir als Kunstwerk ab, es kam zum Bruch mit Duchamp, der die Vereinigung mitgegründet hatte.
Eine Ikone des 20. Jahrhunderts wird geboren
Wenig später, am 9. April 1917, wurde das heute legendäre Werk anonym in der avantgardistischen Galerie 291 in New York ausgestellt. Der Galerist Alfred Stieglitz erkannte dessen enormes Potential, das die Kunstwelt in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Etwas, was anfangs als Nichtkunst abgelehnt wurde, gilt heute gerade deshalb als Ikone der Kunst des 20. Jahrhunderts.
Die Erfindung des Ready-mades
Duchamps revolutionärer Einfall blieb nicht ohne weitere Folgen. Er leitete mit seiner Idee des Ready-mades – ein außerhalb des Kunstbereichs gefundenes oder verändertes Objekt, das zum Kunstwerk erklärt wird – ein neues Verhältnis zwischen Kunst und Kontext, Realität und Objekt ein. Obwohl das Original von 1917 verschollen ist und nur noch ein Fotodokument existiert, ist es dennoch – nicht zuletzt durch autorisierte Repliken – als Kunstwerk fest in unseren Köpfen verankert. Seitdem erkennt man in jedem Pissoir unweigerlich ein Kunstwerk, das eigentlich keines ist. Im Jahr 2004 wurde „Fountain“ von 500 Kunstexperten zum einflussreichsten Werk der Kunstgeschichte (vor Bilder von Picasso und Warhol) gewählt.
100 Jahre Inspirationsgeschichte
Duchamps Idee des Ready-mades hat sich seit ihrer Realisierung vor hundert Jahren zu einer der komplexesten Inspirationen in der Kunstwelt entwickelt. Ihm ging es aber damals – natürlich – in keiner Weise um die heute aktuelle Frage, ob „Fountain“ als Kunstwerk irgendwelche Schamgefühle beim Betrachter auslösen kann. Der Künstler stellte vielmehr alle möglichen provokanten Fragen an die Kunst selbst und die Rolle des Künstlers.
Die Scham als biologisches Ready-made?
Welche Wirkung hätte wohl die Präsentation von „Fountain“ in der aktuellen Ausstellung „Die innere Haut – Kunst und Scham“? Könnte man nicht vielleicht das Schamgefühl selbst als eine Art biologisches Ready-made begreifen? Das Gefühl ist bereits seit Urzeiten da – aber erst heute erkennen wir dessen historische Auswirkungen besser…
Eine Toilette erobert den Ausstellungsraum
Sarah Lucas real existierende Toilette The great Flood (1996), die in unserer aktuellen Ausstellung „Die innere Haut“ zu sehen ist, erinnert nur noch entfernt an die subtile Frechheit mit der Marcel Duchamp im letzten Jahrhundert alle bisherigen Maßstäbe der Kunst verrückte. Lucas praktisch nutzbare Toilette stellt nicht mehr wie Duchamps „Fountain“ die existentielle Frage nach dem unmöglich gewordenen Status eines Kunstwerks. Es richtete sich direkt an das Schamgefühl des Betrachters.
Im Mittelpunkt stehen hier zwei Momente, die sich gegenseitig kommentieren: Das unbestimmte Gefühl, man könnte im Museum sein eigenes Schamgefühl ausprobieren, und das bloße Faktum, dass hier nicht mehr die Kritik an der traditionellen Idee eines Kunstwerks im Raum steht, sondern eine intelligente Form von Banalität, einer zivilisatorischen Errungenschaft, die sich in einem Wasserklosett materialisiert hat.
Mitarbeit: Lina Louisa Krämer
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