Ein Streifzug durch die Geschichte jüdischer Fotografie
Im Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ kann man viele jüdische Fotografinnen und Fotografen entdecken. Doch existiert „der jüdische Blick“ in der Fotografie überhaupt? Dieser Frage widmet sich Juna Grossmann, jüdische Autorin und Bloggerin, in einem sehr persönlichen Streifzug durch ein Metier, das es nicht gibt.
Als ich eingeladen wurde, einen Blogbeitrag über die Marta-Ausstellung „Benjamin Katz – Entdeckungen“ zu schreiben, überlegte ich schnell, wer mir einfiel in der (jüdischen) Geschichte der Fotografie. Es war nicht Robert Capa, nicht Helmut Newton. Es war Roman Vishniac, der mit seinen Arbeiten über das jüdische Leben in osteuropäischen Städten bekannt wurde und wahrscheinlich die Idee des „jüdischen Blickes“ prägte. Bei Vishniac fallen mir jedoch nicht zuerst diese Arbeiten ein, sondern seine Bilder von Berlin. Streifzüge durch eine Stadt, in der er im Exil lebte. Beobachtungen, Entdeckungen. Nichts ist gestellt. Sein Blick auf die Stadt vor der Shoa. Ist es ein jüdischer Blick? Er war Jude. Doch was würden die Bilder erzählen, wenn er das nicht gewesen wäre? Wären Sie anders?
Juden in der Kunst? Eine neue Geschichte
Blicken wir weiter zurück, finden wir in der bildenden Kunst keine Juden. Dies mag traditionell betrachtet am Bilderverbot liegen, praktisch aber an der Chancengleichheit jüdischer Bürger*innen. Bekanntheit zu erlangen, war ohne den „richtigen“ Glauben unmöglich. Jüdinnen und Juden waren auf wenige Berufsmöglichkeiten beschränkt. Mit der Assimilation änderte sich das. Durch die Konversion zum Christentum erhofften sich Menschen eine Gleichstellung in der Gesellschaft – eine Hoffnung, die sich als trügerisch erwies. Lebenswege wie der des Malers Moritz Daniel Oppenheim sind singulär.
Der Beginn der „jüdischen“ Fotografie
Die junge Kunst der Fotografie hatte vor allem einen Vorteil: Man benötigte keine (teure) akademische Ausbildung, um sie nutzen zu können. Einen Beruf zu erlernen, war hingegen inzwischen üblich – auch für Frauen. Die Fotografie war einer dieser Berufe, die auch jüdische Menschen erlernen konnten, die unverfänglich waren und zudem unabhängig machen konnten. Man brauchte nicht viel: etwas Mut und technisches Verständnis.
Experimente vs. Beobachtungen
Blicken wir auf die Fotografie in der Zeit der Weimarer Republik, erahnt man die Experimentierfreude und die Möglichkeiten, die in dieser Zeit des gefühlten Aufbruchs möglich war. Viele Fotokünstler waren Fotografinnen. Es war Lucia Moholy, die die Fotografie als Dokumentation zum integralen Bestandteil ans Bauhaus holte. Das Fach Fotografie dort wurde andererseits erst ab 1929 Bestandteil des Lehrangebots – und nicht von einer Frau gelehrt.
Von der Kunst zur Propaganda
Mit dem Nationalsozialismus brach ein einst hoffnungsfroher künstlerischer Weg. Jüdische Fotografinnen und Fotografen durften ab 1934 kaum arbeiten, da sie Mitglied im „Reichsverband der deutschen Presse“ sein mussten. Der Besitz von Fotoapparaten für Jüdinnen und Juden war ab 1941 verboten. Fotografie wurde zudem nicht als Kunstgenre gesehen. Sie galt unter den Nationalsozialist*innen als Handwerk, das als „Diener des Staates und Volkes“ zu fungieren habe. Die dominierende Propagandafotografie ist nur Inszenierung, nicht mehr Kunst, nicht mehr Beobachtung oder Dokumentation. Fast verzweifelt hielt man sich im Nachkriegsdeutschland an den Arbeiten Leni Riefenstahls fest und vergaß darüber das reiche Erbe, das auf diesem Feld gewachsen war.
Die Freiheit mit der Kamera – Fotografie im Exil
Nur wenigen Fotografinnen und Fotografen im Exil gelang der Wiedereinstieg in der Fremde. Und dennoch konnte der Besitz einer Kamera eine Chance sein: Fotografie ist Sprache. Sie kann überall ausgeübt werden. Bilder erzählen Geschichten von den Orten und Menschen, die sie abbilden – und immer von den Menschen hinter der Kamera. Der bekannteste Fotograf, der im Exil in seinem Beruf arbeiten konnte war Robert Capa, doch auch seine Partnerin Gerda Taro wurde als fotografische Kriegsberichterstatterin in Spanien zur Legende.
Rückkehr nach Deutschland
In meinen Überlegungen zu jüdischen Fotografinnen und Fotografen fiel mir die Geschichte Eva Kemleins ein. Kemlein überlebte versteckt in Berlin. Sie war keine Fotografin, besaß aber eine Kamera, mit der sie schon nach der Befreiung 1945 begann zu dokumentieren. Ihre Bilder von Berlinerinnen und Berlinern im zerstörten Berlin, ihre legendären Fotografien im „Berliner Ensemble“ unter Brecht machten sie berühmt. Nicht zuletzt ihre Dokumentation der Überreste des Berliner Stadtschlosses vor seiner Sprengung erwies sich in der Neuzeit als wichtiges Zeitdokument. Sie selbst sah sich nie als Künstlerin, sondern als Chronistin ihrer Zeit. Dem Zufall des Besitzes einer Kamera und dem Zugang zu Filmmaterial verdankte Kemlein ihren zukünftigen Lebensweg, der sie unabhängig zwischen Ost- und Westberlin machte.
Entdeckungen mit der Kamera
Eines der ersten erhaltenen Bilder von Benjamin Katz ist der Flughafen Tempelhof 1953. Der junge Benjamin erobert sich die Stadt seiner Eltern mit der Kamera, im Schutz der Kamera? Man kann mutmaßen, wie man sich als Teenager in einer Stadt fühlen musste, aus der die Eltern flohen. Wie es wirklich war, kann nur Katz selbst beantworten. Und dennoch: Eine Kamera kann ein Schutzschild sein, ein Schutz in einer unbekannten Welt. Man kann selbst unsichtbar werden.
Auch Katz‘ Weg zur professionellen Fotografie war trotz oder wegen seiner klassischen Kunstausbildung eher ein Zufall – der Zufall der Anwesenheit einer Kamera und der verfügbaren Zeit und Motiven in Havelhöhe, wo er sich Kamera und Metier zu eigen macht. Seine „Entdeckungen“ wie sie derzeit im Marta Herford zu sehen sind, sind Dokumentationen und Augenblicke. Ein riesiges privates Archiv wurde hier geöffnet, ein fotografisches Tagebuch, das nicht für die Öffentlichkeit vorgesehen war.
Der jüdische Blick?
Gibt es einen dezidierten jüdischen Blick? Ist die Fotografie eine „jüdische Kunst“? Meine spontane Antwort ist nein. Doch so scheint es in diesem Festjahr nicht. Wettbewerbe und Ausstellungen zur vermeintlich jüdischer Fotografie suggerieren, dass dazu ein wie auch immer geartetes jüdisches Motiv gehört: Jüdische Menschen, jüdische Gebäude, jüdische Orte sind die dominierenden Motive in diesem Jahr. Die ersten Fotografinnen und Fotografen hatten nicht das Judentum als Thema, doch das scheint heute fast Voraussetzung zu sein, um als jüdischer Fotograf auszustellen. Wieso fragt hier hingegen niemand, warum z.B. Helmut Newton keine Synagogen, jüdischen Friedhöfe oder Menschen fotografierte? Die Motivwahl ist eine Entscheidung, die die Menschen selbst treffen. In diese Wahl kann man viel interpretieren, vielleicht auch Herkunft und Religion. Wichtig ist die künstlerische Aussage.
Nur wenige Häuser präsentieren jüdische Fotografinnen und Fotografen, die nicht das jüdische Sujet abbilden – so wie Benjamin Katz, der im Marta Herford eine der erfrischenden Ausnahmen bildet. Katz ist Jude, ja, vor allem aber ist er eines: Fotograf. Ein Fotograf, der uns mit dieser Ausstellung erlaubt, seinem sehr privaten Blick folgen zu dürfen.
Über die Autorin
Die Berlinerin Juna Grossmann arbeitet in diversen Museen und Gedenkstätten und betreibt seit 2008 den Blog „irgendwie jüdisch“, wo sie unter anderem über (ihr) jüdisches Leben berichtet. 2018 erschien im Droemer Verlag ihr Buch „Schonzeit vorbei“, das Geschichten des alltäglichen Antisemitismus erzählt. Neben explizit jüdischen Themen beschäftigt sie sich auch mit der DDR, in der sie aufgewachsen ist, mit Museen, Ausstellungen und Erinnerungskultur. Ihre Gedanken dazu teilt sie zudem regelmäßig auf Twitter.
Die Ausstellung „Benjamin Katz – Entdeckungen“ wird gefördert durch #2021JLID – Jüdisches Leben in Deutschland e.V. und ist noch bis zum 3. Oktober 2021 im Marta Herford zu sehen.