Trügerische Wahrheiten
Fiktion ist die ureigene Aufgabe von Kunst und Literatur. Denn es geht darum, eine alternative Realität zu unserer Welt zu entwerfen, um die Fantasie zu beflügeln, um einfach nur zu unterhalten oder auch, um der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Doch wo genau verläuft die Linie zwischen künstlerischer Fiktion und sogenannten Fake News? Und können sich auch Fake News die Kräfte der Fiktion zu Nutze machen?
Die Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess hat mit ihrem Buch „Halbwahrheiten – Zur Manipulation von Wirklichkeit“ einen konzentrierten Blick auf diese Fragen eröffnet und Antworten geliefert. Zum Beispiel unterscheidet die Autorin zwischen Lügen und sogenannten „Halbwahrheiten“. Während der Lügner oder die Lügnerin der Wahrheit (im negativen Sinne) verpflichtet bleibt, ebnen Halbwahrheiten die Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“ letztlich ein. Ihnen geht es vor allem darum, möglichst viele Menschen zu überzeugen. Anstelle der Unterscheidung von „wahr“ oder „falsch“ tritt daher die Unterscheidung zwischen „glaubwürdig“ und „unglaubwürdig“.
Fiktions- statt Faktencheck
Zwar sind laut Nicola Gess auch die „Halbwahrheiten“ in Teilen wahr (dies macht ja gerade einen Teil ihrer Glaubwürdig aus), aber es werden bewusst Informationen weggelassen, einzelne Aspekte übertrieben oder erfundene Elemente hinzugefügt. Man glaubt sie vor allem aus emotionalen Gründen, so zum Beispiel, um das eigene Weltbild bestätigt zu sehen, ein Ventil für Ängste zu finden oder um Machtansprüche zu erheben. Als Beispiele führt Nicola Gess Halbwahrheiten an, die Donald Trump zur Unterstützung seiner Behauptungen des Wahlbetrugs nutzte, oder auch Halbwahrheiten rund um Hillary Clintons Schwächeanfall im Wahlkampf 2016.
Mit drei weiteren Fallbeispielen (der Spiegeljournalist Claas Relotius, der Verschwörungserzähler Ken Jebsen und der Schriftsteller Uwe Tellkamp) führt sie vor, wie ergänzend zu einem „Faktencheck“ ein „Fiktionscheck“ aus literaturwissenschaftlicher Sicht die Zusammenhänge erhellen kann. Denn die Halbwahrheiten dieser Personen weisen eine gewisse Ähnlichkeit zu fiktionalen Texten auf. Der große Unterschied zwischen diesen Halbwahrheiten und künstlerischen Fiktionen besteht jedoch darin, dass sich die Halbwahrheiten den Leser*innen als Geschichtsschreibung – also als faktuale Erzählung – präsentieren.
Die sozialen Medien als Brandbeschleuniger
Eine besonders wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang die sozialen Medien und das Internet. Als eine verschriftlichte „Form des Hörensagens“ wirken Halbwahrheiten, die hier verbreitet werden, oftmals verbindlicher als das gesprochene Wort. Und da sie so rasch multipliziert werden, ist es schwerer, ihnen wirkungsvoll etwas entgegenzusetzen.
Hier gibt es außerdem zumeist eine kollektive Autorschaft, die eine geringere Verantwortung für das Verbreitete übernimmt, als es bei Autor*innen klassischer Publikationsmedien der Fall ist. Als Motiv der Autor*innen für diese neue Form von „Mythologie“ vermutet Gess vor allem ein Gefühl von Zusammenhörigkeit, das dadurch erzeugt werden könne. Das Problem dabei ist jedoch, dass diese Halbwahrheiten „den menschlichen Wirklichkeitssinn“ desorientieren.
Sensibilisierung der Wahrnehmung
Die Desorientierung der Sinne ist auch das Thema unserer aktuellen Ausstellung „Trügerische Bilder – Ein Spiel mit Malerei und Fotografie“. Die Werke thematisieren die Wechselseitigkeit von fotorealistischer Darstellung und malerischem Illusionsraum, in denen das Reale oft nur andeutungsweise aufscheint. Längst haben wir uns daran gewöhnt, die tägliche Bilderflut im Internet sowie in den sozialen Kanälen einfach so hinzunehmen.
Die sieben Künstler*innen der Ausstellung stellen diese eingespielten Wahrnehmungsmechanismen auf den Prüfstand. Indem sich die Werke einer schnellen Betrachtung entziehen, rufen sie dazu auf, genauer hinzusehen. In einer Zeit, in der „Querdenken“* plötzlich negative Anklänge besitzt, und die rasche Verbreitung von Halbwahrheiten das Vertrauen in Informationen erschüttert, können diese Künstler*innen sozusagen eine andere Form des „Fiktionschecks“ bieten, indem sie die Glaubwürdigkeit von Bildern thematisieren und die Rezeption entschleunigen.
Das Buch „Halbwahrheiten – Zur Manipulation von Wirklichkeit“ von Nicola Gess erschien 2021 in der 2. Auflage bei Matthes & Seitz in Berlin.
* Die Kategorie „querdenken“ des Marta-Blogs, in der auch diese Buchempfehlung erscheint, werden wir übrigens auch nach Corona bewusst beibehalten – obgleich die sogenannten „Querdenker“ dafür gesorgt haben, dass dieser Begriff plötzlich negativ konnotiert ist. Denn das Marta Herford steht dafür ein, gesellschaftliche Prozesse immer wieder kritisch und zugleich sachlich und faktenbezogen zu hinterfragen und daher immer wieder auch quer zum Mainstream zu denken – so wie auch die Autorin dieses Beitrags.