Venedig-Biennale 2022: Ein künstlerischer Lagebericht aus der Lagune
Nicht nur die Ausstellungshäuser in der ganzen Welt, sondern auch die künstlerischen Großevents haben in den letzten zwei Jahren unter außergewöhnlichen Bedingungen gearbeitet. Nach einer langen Zeit der Entbehrung wurde mit einem Jahr Verspätung die Venedig Biennale nun endlich eröffnet.

Aufgrund des früheren Eröffnungstermins heißt mich Venedig in diesem Jahr zwar etwas verregnet willkommen, aber selbst bei diesem Wetter ist der Weitblick auf das – diesmal recht ungestüme – Meer an den Giardini immer wieder ein Genuss.
Direkt neben dem Peer zu meinen Füßen entdecke ich das Denkmal von Augusto Murer, mit dem der Künstler die Frauen würdigt, die gegen den Faschismus in Italien kämpften und das Regime zu Sturz brachten. Obwohl ich die Skulptur schon lange kenne, stimmt sie mich in diesem Moment erneut nachdenklich – und auf ideale Weise ein auf die Kunst, die in diesem Jahr auf der Biennale in Venedig zu sehen ist.

Geschichte als Spiegel der Gegenwart
Das Presseaufkommen ist groß bei der Konferenz im Deutschen Pavillon. Die Künstlerin Maria Eichhorn hat in diversen Archiven zu der wechselreichen Geschichte des umstrittenen Baus recherchiert und akkurat die architektonischen Eingriffe herausseziert, die an dem Pavillon zu unterschiedlichen Zeiten vorgenommen wurden. Sie veranschaulicht durch diese quasi-archäologischen Freilegungen die Verbindungen zwischen den verschiedenen Bauphasen: So wurde der ursprüngliche Bayerische Pavillon von 1909 durch die Nationalsozialisten 1938 erweitert und zur heutigen Fassung umgebaut. Um auch die faschistische Vergangenheit in Venedig zu beleuchten, werden als Ergänzung zur Arbeit im Deutschen Pavillon Führungen zur Geschichte des Widerstands im Stadtraum angeboten, zu einem der Ziele des Rundgangs zählt auch – wer hätte das gedacht – das Denkmal von Augusto Murer, das mich kurz zuvor bei meiner Ankunft an den Giardini empfangen hat.
Aber nicht nur die Fragen der Pressevertreter*innen oder die Antworten des verantwortlichen Kurators Yilmaz Dziewior, sondern auch die Anwesenheit der lokalen Polizei in dem Pavillon versetzen mich unverhofft zurück in die Gegenwart: Können wir wirklich etwas aus der Geschichte lernen oder holt sie uns immer wieder ein? Was sagt es uns, wenn der Russische Pavillon in diesem Jahr leer bleibt, weil die Künstler*innen und die Kuratorin davon Abstand nehmen, ihr Land auf dieser internationalen Ausstellung zu vertreten? Und welche Rolle spielt die Kunst heute inmitten eines vom Krieg betroffenen Europa?

Spuren des Widerstands aus der Vergangenheit
Nachdem ich eine lange Schlange hinter mir gelassen habe, betrete ich den Französischen Pavillon. Hier schlägt die in Algerien geborene Künstlerin Zineb Sedira auf eine ganz andere Weise die Brücke zur Vergangenheit. Ich fühle mich direkt wie in einen fantastischen Traum versetzt, der sich auf den zweiten Blick als Filmset offenbart: Eine Bar mit Discokugeln und ein Paar in Abendgarderobe, das einen intimen Tango aufs Parkett legt. Mit den begehbaren Kulissen bezieht sich die Künstlerin auf algerische Filme, die in den 1960er und 70er Jahren Teil der algerischen Befreiungsbewegung gegen die koloniale Besatzung des Landes waren. Im Hinterraum befindet sich ein Kino mit einem Film der Künstlerin, in dem restaurierte, historische Filmszenen mit eigenen Sequenzen vermischt werden. „Träume haben keinen Titel“ nennt die Künstlerin lakonisch ihre Installation, die noch länger in mir nachwirkt.

Geballte Frauenpower
Im Britischen Pavillon ist ein Werk einer weiteren Künstlerin zu sehen. Mit „Feeling Her Way“ füllt Sonia Boyce die Ausstellungsräume mit Musik. Auf den Screens mit einer bunt-collagierten Wandtapete sieht und hört man die Stimmen Schwarzer Musikerinnen, die gemeinschaftlich von Freiheit, Verletzlichkeit und Ermächtigung singen. Ein schönes Konzerterlebnis! Und man mag es kaum glauben, Boyce ist tatsächlich die erste Schwarze Künstlerin, die im Britischen Pavillon ausstellt und wie ich später erfahren sollte, wurde ihr Beitrag in diesem Jahr mit dem goldenen Löwen ausgezeichnet (neben dem von Simone Leigh im Pavillon der USA).

Aber nicht nur in den Länderpavillons, sondern auch in dem zentralen Pavillon in den Giardini fallen die zahlreichen Beiträge von Künstlerinnen ins Auge. So hat die Kuratorin Cecilia Alemani in diesem Jahr ein deutliches Statement für eine sichtbare, weibliche Präsenz in Venedig gesetzt. In fünf historischen Zeitkapseln stellt sie – zum Teil nur wenig bekannte – Künstlerinnen des Surrealismus, des Futurismus, der konkreten Poesie sowie der programmierten Kunst vor und setzt sie in einen anregenden Dialog zu Beiträgen von zeitgenössischen Künstler*innen wie beispielsweise von Cecilia Vicuña. Die visionären Werke der chilenischen Dichterin, Bildhauerin, Malerin, Installations- und Performancekünstlerin, die (neben Katharina Fritsch) in diesem Jahr einen Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk erhielt, ist mit einer wunderbar zarten Installation aus natürlichen Fundstücken ebenso wie mit beschwörenden Gemälden im zentralen Pavillon vertreten.

Kindliches Spiel und bittere Realität
Indes eröffnet der Belgische Pavillon eine beeindruckende Soundkulisse: Ein kakophonischer Chor aus Kinderstimmen und anderen Geräuschen erfüllt den Raum. Auf verschiedenen Screens sehe ich Kinder aus aller Welt, die unterschiedlichen Spielen nachgehen. Dabei zeigen sie teils unglaubliche Fähigkeiten auf: So summen zum Beispiel Jungen aus dem Kongo in der Tonlage von Stechmücken, um die weiblichen Tiere, die Malaria übertragen, in die Falle zu locken und totzuschlagen. In einem anderen Film führen drei Mädchen auf dem Dach eines Hochhauses in Hong Kong virtuose Seilkünste vor.

Im Übrigen sind die Filme auf der Website des Künstlers frei zugänglich, so dass sie auch vom heimischen Rechner aus angesehen werden können. Mein uneingeschränkter Tipp: In der Arbeit #29 mit dem Titel „La roue“ rollt ein Junge einen riesigen Gummireifen einen steilen Berg hinauf. Hinter dieser vermeintlichen Ausgelassenheit offenbart sich auf den zweiten Blick jedoch eine unglaubliche Brutalität, die sich in Alÿs‘ Videoarbeiten oftmals durch den gegebenen Kontext ergibt, in dem die Kinder leben. In diesem Fall handelt es sich bei dem Berg um die Abraumhalde einer Kobaltmine im Kongo, welche die dort lebenden Menschen bis heute auf der Suche nach Lithium durchsieben, um unseren globalen Batteriemarkt zu versorgen und dabei ihr Leben riskieren. Oben angekommen, setzt sich der Junge in den Reifen und rollt kopfüber den Hang hinab. Schaulustige Kinder rennen hinterher und singen dazu ein frei erfundenes Lied, das eine positivere Zukunft des Kongo heraufbeschwört. Eine sehr berührende Arbeit. Check it out!

Schrille Töne und stille Momente
Der österreichische Pavillon wartet mit einer Art Kulisse aus schrillen Farben und schrägen Motiven auf, bei der der menschliche Körper wie eine „Soft Machine“ zwischen ekelerregender Provokation und lustvollem Begehren erscheint. Die Künstler*innen Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl haben auch ein Magazin herausgegeben, indem die Grenzen zwischen Männern und Frauen, aber auch zwischen den Disziplinen Kunst, Mode und Architektur ironisch-humorvoll verwischt werden.
Wenn die Venedig Biennale insgesamt eher mit stillen Momenten als mit spektakulären oder provokanten Installationen aufwartet, kann man das eventuell auch als Zeichen einer Zeit sehen, die von beunruhigenden gesellschaftlichen Entwicklungen – wie dem Krieg oder auch der Pandemie – geprägt ist.

Freudiges Wiedersehen
Nach einigen Neuentdeckungen bin ich aber auch sehr glücklich, einige „Alte Bekannte“ wiederzusehen: Sandra Vásquez de la Horra hat einen fulminanten Auftritt mitten im Arsenal. Ein kleiner Pavillon aus Holz dient gleich mehreren Arbeiten der Künstlerin als Display. Ihre Motive zeigen mythische Mischwesen, Märchengestalten und Comicfiguren, Heilige, Götter und Teufel. Die chilenische Künstlerin taucht ihre Zeichnungen, die sie mit raschen Strichen auf Papier bannt, abschließend in ein Wachsbad, welches die Bilder fixiert und ihnen zugleich eine besondere Körperlichkeit verleiht. Sandra Vásquez de la Horra war bereits 2010 in unserer Ausstellung “Unsichtbare Schatten – Bilder der Verunsicherung” im Marta Herford zu sehen.

Aber auch die Arbeiten von der bereits 1999 verstorbenen Künstlerin Beliks Ayón sind ein freudiges Wiedersehen für mich. Mit großer Begeisterung hatte ich sie auf meiner Reise zum internationalen Kuratorenkongress des IKT in Kuba vor ein paar Jahren entdeckt. Ihre reliefartig geprägten Grafiken mit unglaublichen Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß, die sich mit Symbolen und Codes kubanischer Mythen beschäftigen, besitzen eine magische Anziehungskraft. Erstaunt bin ich, als ich lese, dass sie bereits 1993 auf der Biennale in Venedig vertreten war.

Die Schönheit des Sich-Verlierens
Nach den Rundgängen in den Giardini und im Arsenal mit Neuentdeckungen und „Alten Bekannten“ wende ich mich den Projekten in der Stadt zu. So tauche ich ein in die Ausstellung „Human Brains“ von Udo Kittelmann und Taryn Simon mit zahlreichen historischen Drucken und Büchern zur Hirnforschung und in der die verwinkelte Ausstellungsarchitektur selbst den Windungen des Gehirns nachempfunden ist. Anschließend besuche ich ein Filmprogramm der Fondazione In Between Art Film, die in der imposanten historischen Architektur des Ospedaletto und der Kirche Santa Maria dei Derelitti gezeigt wird. Solche Ausstellungsorte finden sich einfach nur in Venedig!

Ausblicke für die Zukunft
Zum wunderbaren Finale des Tages finde ich mich an dem Platz vor der eindrucksvollen Fassade der Kirche Santa Maria Maddalena ein, an deren Portal ein geheimnisvolles Symbol prangt – das „Auge der Vorsehung“. Dort treffe ich „Hasi“, der mich durch die Gassen in einen abgelegeneren Winkel von Venedig entführt. In einem barocken Lagerhaus begegne ich einer Gruppe von Italienischen und Schweizerischen Künstler*innen und Kurator*innen, die bei einem Muschelschmaus mit Schaumwein (ebenfalls aus Muscheln) – halb drinnen, halb draußen auf einem Boot – auf die Zukunft anstoßen. Die Einladung zur Begehung des so bezeichneten „Böhmischen Pavillons“ erhielt ich vom Künstlerkollektiv U5 aus Zürich. Gemeinsam mit einem weiteren Kollektiv aus Venedig werden sie in dem ehemaligen Depot für Böhmisches Glas in den nächsten Jahren eine Künstler*innenresidenz aufbauen – einen Ort mit Ateliers und Ausstellungen, der auch weniger betuchte Künstler*innen beherbergen soll. Eine schöne Vision für diesen unglaublichen Ort! Und mit absoluter Sicherheit werde ich mich auch bei meinem nächsten Besuch wieder hierher verirren, um zu sehen, wie diese Pläne in die Wirklichkeit umgesetzt wurden.