Vom Plausibelmachen und Paradoxieren: Zum Umgang mit einer zeitgenössischen Differenz
Selbst die Zukunft hat sich bereits verändert: Früher machte man Pläne; heute kalkuliert man, ob und wie Pläne plausibel wirken. „Man erkennt dann erst voll das Wirkliche, wenn man auch das Mögliche überschaut.“
Diese einfache paradoxe Einsicht des Philosophen Otto Neurath (1882-1945) klingt nicht nur seltsam optimistisch, sondern gerade heute plausibel, weil irgendwie vertraut. Solche hellsichtigen Momente utopischen Nachdenkens werden offenbar immer wieder gebraucht, um „die Fantasie aus dem Gefängnis der Gegenwart zu befreien“ (Bernd Ullrich, DIE ZEIT, 28.12.2017, S. 2). Doch was macht in der heutigen Wirklichkeit eigentliche (noch) das Mögliche aus? Hat sich das Utopische nicht längst ins schnell Machbare verflüchtigt? Oder anders gefragt: Ist die Zukunft, die alte Idee des Utopischen nicht längst kurzerhand durch ein ständig neues Plausibelmachen ersetzt worden? Und was könnte das Ganze mit unserem Umgang mit gegenwärtiger Kunst zu tun haben?
Plausibilität als Grenzbegriff
Dass uns als Autoren und Gestaltern, Betrachtern und Lesern als Konsumenten etwas als plausibel erscheint oder genauso dargestellt wird, heißt erst einmal nichts anderes, als dass uns jetzt etwas als einleuchtend präsentiert wird. Die genaueren Gründe dieser zugeschriebenen Wirkung erscheinen dabei erst einmal zweitrangig. Plausibel ist heute aber nicht mehr nur, was „irgendwie“ gefällt, sondern was in einem bestimmten Kontext jetzt Sinn macht, also funktioniert – oder eben nicht (und dann verändert oder gleich entsorgt wird). Plausibilität ist offenbar ein Grenzbegriff, dessen Nutzen sich jeweils erst im Prozess seiner Beschreibung ergibt, der ausdrücklich auch Veränderungen einschließt. Was würde unter diesen eingeschränkten Bedingungen nun aber ein*e Künstler*in wohl von einem Kritiker denken, der/die seinen/ihren Werken eine gewisse Plausibilität bescheinigen würde? Und noch eine weitere, nicht ganz leicht zu beantwortende Frage: Was unterscheidet eigentlich ein Herstellen von Plausibilität vom Machen eines Kunstwerks?
Kunst und Plausibilität
Kann gerade ein so ambitioniertes Phänomen wie ein Kunstwerk überhaupt so etwas wie mit einer Plausibilität in Zusammenhang gebracht werden? Besitzt so etwas Schwammiges wie etwas plausibel Wirkendes überhaupt irgendeine ernst zu nehmende Relevanz? Und wenn ja, was sagt diese Bewertung heute (überhaupt noch) aus? Nicht gerade sehr viel, verfolgt man die Geschichte des Begriffs. Das Adjektiv plausibel wurde ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts von dem gleichbedeutenden französischen Wort plausible übernommen, welches aus dem lateinischen plausibilis für „Beifall verdienend“, „auf Beifall berechnet“ und „einleuchtend“, bzw. plaudere für „(Beifall) klatschen“ entlehnt wurde.
„Von Raymond Chandler“, schrieb kürzlich die Kritikerin Florentine Schumacher über die neueste Netflix-Serie „Dark“ (FAZ, 26. November 2017, S. 55) „stammt der Satz, dass Plausibilität vor allem eine Frage des Stils sei. Man kann einem alles erzählen, wenn man es erzählen kann.“ Wie smart ist denn diese Aussage? Seit wann können Einsichten wie diese wie wertvolle Argumente wirken, die dem/der Leser*in so unmittelbar einleuchtend formuliert wurden und ihn gleich zum Weiterdenken von Eigenem inspirieren? Schreiben heißt heute immer auch etwas zu plausibilisieren, den Leser mit in eine gemeinsam entstehende neuartige Welt zu nehmen. Eine gewisse Plausibilität – dieses unbestimmte (Wert-)Urteil ist jedenfalls unschädlich und nur sehr selten unsympathisch. Und es wirkt möglicherweise auch als Trigger, um einen Moment lang freihändig weiter zu denken: Was steckt nicht alles in der Idee dieses Begriffs und vor allem: was könnte am ehesten als dessen Gegenteil funktionieren?
Plausibel und Paradox
Kann etwas, zum Beispiel eine jetzt relevante Form einer Darstellung, nicht auch zugleich plausibel und paradox sein? Auf den ersten Blick erscheinen Ideen dann vor allem als plausibel, indem sie scheinbar zeitlos sind und auf den zweiten Blick paradox, indem sie in ihrer Zeitlosigkeit umgekehrt zeitbedingt erscheinen. Der für heutige Ohren so zeitgenössisch klingende Gegensatz plausibel/paradox funktioniert interessanterweise auf einer logischen und einer temporalen Ebene. Plausibel ist, was gerade jetzt zur Form und zur Formulierung eines Jetzt passt. Paradox hingegen ist, dass das, was während einer gelingenden Form passiert, selbst noch nicht genügend bestimmt ist. Eine Prognose dessen, was aus dieser Kombination einmal entstehen wird, ist (noch) nicht möglich. Ideen von Zukünften, die heute entstehen, sind nicht selten in sich grenzwertig und widersprüchlich, ja nicht selten auch paradox und dann gerade deshalb so erfolgreich.
Die Tatsache, dass gleichzeitig etwas plausibel Gemachtes und etwas paradox Erzeugtes auf unbestimmt bestimmte Weise miteinander in Beziehung stehen, gibt einem in der Regel mehr zu denken als man jetzt verarbeiten kann. Während das Plausibelmachen von Abläufen eine gewisse Neugier, ja ein gewisses assoziatives Talent voraussetzen, um etwas Gegensätzliches zu erkennen und damit weiter zu spielen, ist die Fähigkeit ein Paradoxie zu dekonstruieren viel anstrengender und zeitaufwändiger. Plausibel ist oder wird eine Erzählung dann, wenn die Form, in der eine Realität gerade gemacht, also mit formuliert wird, auch möglichst gut nachvollziehbar wird.
„Worüber man nicht reden kann, davon muss man schweigen.“
Nachvollziehbar oder gar plausibel ist Wittgensteins berühmte Sprachspielparadoxie gerade nicht. Muss sie auch gar nicht. Gerade im Fall menschlicher und auch ästhetischer Kommunikation gilt: Man versteht nur bis zu einer gewissen Grenze, was eine Paradoxie als Paradoxie ausmacht. Mit einem Rest von Nicht-Erkenntnis muss man dann jeweils so gut es geht selbstständig weiterleben oder denken. Eben deshalb wirkt eine Plausibilität zwischen dieser speziellen Unterscheidung noch umso intensiver nach. Eine Unterscheidung, die eine Paradoxie und damit einen Spielraum von Freiheit erfahrbar macht, fragt auch nach dessen Plausibilität, nach einer möglichen Form, mit der deren Gegensätzlichkeit explizit gemacht werden kann – und dann in einer Aussage wieder in sich geschlossen wird.
Durchaus produktiv, ja sogar inspirierend kann es sein, indem man heute eine Paradoxie wie eine zeitgenössische Form von plausibel gemachter Aktualität darstellt – und so eher weniger daran festhält, Wahrheit als eine Menge von zeitlosen Ideen zu begreifen. Joseph Beuys hat einmal im Jahr 1985 in einem Interview mit Georg Jappe seine Ideen von Kunst wie eine eigenartige, zeitlich unbestimmte Prognose formuliert, die er – spielerisch und sprachbewusst veranlagt wie er eben war – als eine plausible Vermutung aus einer paradoxen Verkündigung entstehen ließ: „Das muss aus der Zukunft kommen, so etwa nach der Idee: Die Wirkung ist eher sichtbar als die Ursache. Also dass man etwas bringt, bevor es da ist.“