Von der Fläche in den Raum
Jens Wolf, einer der beiden Künstler der Ausstellung „Risse in der Wirklichkeit“, verbrachte über eine Woche intensiver Aufbau- und Vorbereitungszeit im Marta.
Er entwickelte eine Wandmalerei, die neben aktuellen Gemälden noch bis Ende Juni in der Lippold-Galerie in der ersten Etage zu erleben ist. Ihr Entstehungsprozess soll an dieser Stelle genauer betrachtet werden, denn genau genommen wurde keine Farbe auf die Wand gebracht. Ausgehend von der Sammlung Marta und den Werken, mit denen Jens Wolf und Gavin Turk jeweils darin vertreten sind, stellt diese Ausstellung die zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Künstler jeweils mit neueren Werkzusammenhängen in einer dialogischen Präsentation vor.
Perfektion zwei- und dreidimensional
Während von dem Briten Gavin Turk überwiegend Skulpturen zu sehen sind, zeigt der in Berlin lebende Jens Wolf neben dem Wandgemälde abstrakte Malereien mit geometrischen Formen und reduzierter Farbigkeit. Gemeinsam ist beiden Künstler nicht nur, dass sie sich – auf ganz unterschiedliche Weise – bedeutende Werke der Kunstgeschichte aneignen und Autorschaft und Authentizität thematisieren. Erstaunliche Parallelen sind auch in der besonderen Perfektion ihrer jeweilige Arbeitsweise zu entdecken: In Form von originalgetreu bemalten Bronzeobjekten schafft Turk scheinbar perfekte Illusionen der Wirklichkeit – inklusive der Darstellung von Benutzungsspuren. Hingegen bestechen Wolfs Bilder (aus Acrylfarbe auf Sperrholz als Malgrund) unter anderem mit ihrer vordergründig äußerst akkuraten Ausführung von Farbflächen und ihren Begrenzungen.
Subversive Brüche im Perfekten
Als Bildquellen für seine ästhetisch kühl erscheinenden Gemälde dienen Jens Wolf die konstruktivistische Kunst und die Hard Edge-Malerei, unter anderem Werke von Josef Albers, Frank Stella oder Kenneth Noland. So werden Streifen, Bögen, Kreise oder Dreiecke mehr oder weniger konkret zitiert, „recycelt“ und in neuer Form ins Bild gebracht. Dabei treffen Flächen gleichmäßigen Farbauftrags mit präzise gemalten Kanten hart aufeinander. Erst auf den zweiten Blick fallen kalkulierte Fehler wie zum Bildrand ausfransende Streifen, noch sichtbare Konstruktionslinien, Kleckse oder auch aus dem Bildzentrum gerückte Kreisformen ins Auge. Diese treten wie eine subversive Verweigerung der vermeintlich herrschenden Perfektion diskret als subjektive Gesten des Malers in Erscheinung. Ebenso charakteristisch ist das für die Wandmalerei, die er mit Stoff, Bleistift, Aluminiumfolie und Transparentlack in Bezug auf die vorgefundene Raumarchitektur angefertigt hat. Die folgende Fotodokumentation zeigt das Entstehen dieses großformatigen Werks.
Für die Gestaltung der Wandmalerei ist der Künstler von den links an der Wand gelehnten Gemälden (Jens Wolf: „n.t., 14.47“ und „n.t., 14.48“, beide 2014) ausgegangen. Sie werden nach Abschluss der Arbeiten im Galerieraum auf der gegenüberliegenden Seite präsentiert.
Diese detailgenau vorbereitete Maßzeichnung enthält alle Linien und Abmessungen für die sich über zwei Galeriewände erstreckende „Malerei“. Neben den Umrandungslinien der rechtwinkligen Flächen und Streifen ist auch das zu verwendende Material vermerkt (z.B. „Alu“). Auch die Fehler sind schon eingezeichnet.
Auf einem Gerüst stehend und seine Entwurfszeichnung vor Augen überträgt der Künstler mit Bleistift und großem Geodreieck millimetergenau die horizontalen und vertikalen Linien auf die weiße Wand. Nach dem aufwändig übertragenen Entwurf klebt Jens Wolf die Aluminiumfolie akkurat geschnitten auf die vorgesehenen Wandflächen.
Von Nahem betrachtet macht die glänzende Folie markante Unregelmäßigkeiten der Wandoberfläche sichtbar, was als besondere Materialeigenschaft auch zum Bildthema (des Nicht-Perfekten) wird. Übrigens ist bei Rollen handelsüblicher Alufolie nicht unbedingt immer eine gleiche Farbigkeit zu erwarten.
Anschließend wird der dunkelblaue Stoff vorbereitet, auf den die zur Verstärkung aufgebrachte Vlieselineschicht aufgebügelt wird. Mehrere Stunden insgesamt dauert es bei der Stoffmenge von ca. 15 Metern bis sich die beiden Stoffe miteinander verbinden. Ausgehend von der Entwurfszeichnung überträgt der Künstler dann die Linien und Schnittmaße auf den gesamten Stoff. Entsprechend der aufgezeichneten weißen Linien schneidet er die einzelnen Stoffstücke zu.
Um möglichen Knicken im glattgebügelten Stoff vorzubeugen, werden alle Teile sorgfältig aufgerollt und gekennzeichnet.
Jens Wolf bringt die teilweise über 3 Meter langen Stoffstreifen auf die mit Kleister eingestrichenen Wandflächen passgenau auf. Einzelne Partien müssen manchmal nachbearbeitet werden. Wichtig ist dabei, die Unversehrheit des Stoffs zu erhalten und mögliche Beeinträchtigungen, etwa durch Fingerabdrücke, zu vermeiden. Auch schon in halbfertigem Zustand ist die beeidruckende Wirkung durch das Nebeneinander der Farbigkeiten und Materialitäten wahrzunehmen. Neben Alufolie, dunklem Stoff und weiß belassener Wand bilden auch Bereiche mit Transparentlack einen Teil des Wandbildes. Der Lack wird innerhalb der mit gelbem Klebeband umrandeten Flächen mit Pinsel aufgetragen und verleiht dem Weiß einen speziellen Glanz.
Das fertige und zum Abschluss gut ausgeleuchtete „Wandgemälde“ fasziniert durch das vibrierende Zusammenspiel der Flächen mit der gegebenen Raumarchitektur. Durch ihre jeweilige Farbwirkung treten einzelne Partien scheinbar zurück, während sich andere in den Vordergrund drängen. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Materialität absorbieren oder reflektieren sie das Licht. Stellen, an denen Streifen wie abgerissen scheinen, Bleistiftlinien sichtbar oder auch einzelne Stofffäden hängen geblieben sind, vermitteln das beabsichtigt Brüchige in der Illusion des Perfekten.