„von wegen“ – im Gespräch mit Kunst
Eskimos haben bekanntlich 400 unterschiedliche Wörter für Schnee. Westliche Kulturen besitzen hingegen einen – und zwar extrem offenen – Begriff für Kunst. Was will uns diese Unterscheidung sagen? Ein bestimmter, individuell geprägter Umgang mit Sprache verrät heute, wie ich mich einem Kunstwerk oder sonst einer spezifischen Innenwelt sprachlich, das heißt vergleichend nähere.
Wie der selbst realisierte Umgang mit individuell geprägten, sprachlichen Mitteln, so erweitert auch die Interaktion zwischen Werk und Rezipient*innen die Möglichkeiten, einen Zugang zur Institution Kunst zu finden und mittels einer angemessenen Sprache zu realisieren. Fragt die Kunst als Institution heute nach denjenigen, die sie nicht nur sprachlich, sondern auch ästhetisch als Kunst aktivieren, so ist und bleibt es immer wieder der jetzt hergestellte Zugang, der dieses rezeptionsästhetische Ereignis produktiv macht und ermöglicht.
Nicht zu jeder Lebenszeit verstehen wir als Anteil nehmende Betrachter*innen Kunstwerke in gleicher Weise. So wie man Erfahrungen im Leben sammelt, so erkennt man auch, dass sich das eigene Kunst- und Sprachverständnis im Laufe des eigenen Lebens verändert – eine kulturelle Erfahrung, die selbst Kunstprofis lange übersehen haben.
„Von wegen“
Vielleicht ist jede Erfahrung von Kunst ja immer auch an einen gewissen persönlichen Zugang gebunden? Gibt es vielleicht sogar so etwas wie eine persönliche Sprache der Kunst? Vielleicht in Form einer Art zukünftiger ‚Personal Art Language‘? Wer Kunst nicht einfach nur in einfache Sprache übersetzen will, sondern mittels zugespitzten Ausdrucksweisen versucht, die Innenwelten anderer zu erreichen, dabei seine eigene Sprachmacht darstellt oder aber Neugierde auslöst, der braucht Sprachgefühl – aber wohl auch einen Sinn für Themen, die gerade aktuell in der Luft liegen. Hierzu ein Beispiel: Thomas Rentmeister hat in seiner neuen Arbeit „von wegen“ (2020) offenbar entdeckt, dass man Werke nicht nur sehen kann, sondern ihnen und ihren Botschaften buchstäblich zuhören kann: In einem uralten Wohnwagen, aus dem Schottersteine herausquellen, erkennt man im Inneren den Neonlicht-Schriftzug „von wegen“. Dieser vielsagende Titel als Hinweis für die Betrachter*innen ist mehr als doppeldeutig. Er richtet sich offenbar nicht nur an die Institution Kunst: „Von wegen“ – ist jetzt etwa alles Kunst?! Sondern vor allem auch an das Publikum: „Von wegen“ – glaubt ihr wirklich, dass diese Botschaft so eindeutig ist?!
Rentmeisters „Von wegen“ funktioniert wie ein Echo der eigenen, aktuellen Kunstwahrnehmung – seine Botschaft ist zeitgenössisch: Je weniger Kunst noch so tut als wäre sie ein autonomes Werk, desto mehr geraten ihre Betrachter*innen unter Stress. Die Pointe zeitgenössischer Kunst ist, dass wir Betrachtende jetzt leben, die Kunst aber nicht gegenwärtig ist, sondern mit Möglichkeiten und Veränderungen kalkuliert.
Dass Kunst Unsichtbares sichtbar macht hat bekanntlich Paul Klee behauptet. Dass gerade Sprache das Medium Kunst bis zur Erleuchtung verändern kann, ist eine neuere Erkenntnis. Es geht heute – besonders in der gegenwärtigen Kunst – nicht mehr ohne erwartete Uneindeutigkeit und anspruchsvolle Missverständlichkeit, die geschriebene oder gesprochene Sprache immer wieder zum Ausdruck bringt, aber es geht ebenso auch nicht ohne den starken Wunsch man möge die Kunst nicht wie einen funktionalen Algorithmus betrachten, mit dem man Beliebiges in Kunst oder in so etwas wunderbar Vielfältiges wie Sprache verwandeln kann. Werke sprechen nicht alles aus, was sie in sich gespeichert haben; sie animieren uns höchstens, das auszusprechen, was uns jetzt und explizit anspricht. In diesem Fall etwas, das uns jetzt wie zeitgenössisch gemacht erscheint und das sich auf eine inspirierende Weise leicht in Sprache übersetzen lassen kann. Schon wahr – aber Kunst ist noch zu unbekannt, um einfach nur wahr zu sein.
„feuer unterm hintern“
Kunst kann man nicht lernen, aber mit Kunst etwas machen! Klingt dieser coole Imperativ nicht etwas zu stark nach modischem Zeitgeist? Oder steckt doch etwas mehr dahinter? Mit-Machen ist im Museum seit Jahren das Gebot der Stunde. Kunst entsteht nicht, wenn nichts aktiviert wird. Machen ist deshalb das Mantra der Gegenwart und vermittelt vor allem so etwas wie ein erstes Kennenlernen von Kunst. Gelingen ist dann das nachträglich entstandene Gefühl, dass Kunst nicht funktioniert, sondern lebt. Lernen ist eine Frage, die jeweils den eigenen Fokus betrifft: Was habe ich jetzt gerade gelernt? Ist ein Leben ohne permanentes Lernen eigentlich vorstellbar? Und welche soziale Funktion / Rolle könnte dabei in meinem Leben gerade Kunst spielen? Muss Kunst immer Autonomie und Freiheit versprechen oder kann ich ihre Freiräume nicht auch als Resonanz für mich und andere nutzen?
Man könnte ja vielleicht einmal in einer Ausstellung genauer untersuchen, ob man Kunst wirklich auf die Unterscheidung lernen / machen herunterbrechen kann – oder ob es nicht auch ganz andere Unterscheidungsformen geben könnte. Möglich wäre ja auch die Unterscheidung sehen / vorhersehen. Kunst wäre so gesehen eine Form angewandter Prognostik. Wie nie zuvor in der Kunstgeschichte reflektiert Kunst heute ihren Status als zeitgenössisch operierende Reflexionsinstanz. In manchen Ausstellungen fragt man sich heute zu Recht: Sieht und erwartet man jetzt (noch) Kunst oder denken wir schon an eine Zukunft, die Gegenwart geworden ist? Etwa wenn wir versuchen, vorherzusehen wie sich Kunst entwickeln könnte und wie sie uns verändern wird. Bis man sich sein eigenes Bild seiner Gegenwart gemacht hat, vergeht in jedem Fall einige Lebenszeit.
Was Kunst zeigt, bleibt häufig unsichtbar; was Kunst heute zeitgenössisch macht, erschließt sich durch unseren schriftlichen oder mündlichen Kommentar. Die sehr alte Beziehung zwischen Kunst und Sprache ist letztlich wohl doch älter als wir glauben. Eine treffende Pointe von spezifisch ästhetischer Erkenntnis liegt in der Kombination aus Witz, vernünftiger Leichtigkeit und geschärfter Erkenntnis: In seinem Gedicht „Prometheus“ (2000) von Thomas Kling (1957 – 2005) (in: FAZ v. 15. November 2020, S. 40) heißt es am Ende:
„(…) ich mach der sprache
feuer unterm hintern. flammende.“