Wem gehorchen die Werkzeuge (nicht)?
Seit Ende der 1990er Jahre konzentriert sich die Arbeit von Cinthia Marcelle auf den Ansatz, sich von etablierten Wissenssystemen loszusagen, wie etwa der binären Struktur von Begriffspaaren, Ordnung–Chaos, Fiktion–Realität, Regel–Ausnahme, Unterordnung–Widerstand oder Innen–Außen, die unser Denken lenken und es wie ein Gefängnis limitieren. Gabriela Jaureguis Denkfigur der „ungehorsamen Werkzeuge“ eröffnet dafür einen inspirierenden Möglichkeitsraum.
Der Titel von Cinthia Marcelles Ausstellung „Ungehorsame Werkzeuge“ im Marta Herford ist dem gleichnamigen Essay1 der mexikanischen Autorin Gabriela Jauregui entlehnt. Sie geht darin der Frage nach, wie normative, patriarchale und moderne Identitäts- und Wertvorstellungen überwunden werden können, die die Grundlage für soziale Hierarchien und damit verbundene Diskriminierung bilden. Jauregui baut ihre Argumentation auf dem ikonischen Zitat „Die Werkzeuge der Herrschenden werden das Haus der Herrschenden niemals einreißen“2 der afroamerikanischen, feministischen Dichterin und Aktivistin Audre Lorde auf, um die Institutionskritik von innerhalb der Institutionen, d.h. mittels den gewohnten Mittel, als ineffektiv zu kritisieren. Stattdessen schlägt sie Sprache als ein konstruktives Werkzeug vor, um aus etablierten patriarchalen und modernen Denksystemen auszubrechen und die damit verbundenen Strukturen in der Gesellschaft zu demontieren.
Sprache als konstruktives Werkzeug
Seit jeher ist die Sprache und wie wir sie verwenden im Wandel: Wir sind es gewohnt, uns diese täglich neu anzueignen. Das bedeutet aber nicht, dass das stets reibungslos passiert, wie aktuelle Debatten in Deutschland um sogenannte geschlechtergerechte Sprache zeigen. Dramatiker*in und Autor*in Sasha Marianna Salzmann beschreibt diese Debatten als „Diskurse um Machthegemonien“ und argumentiert:
„Marginalisierte gehören in der Sprache abgebildet. Auch im Schriftbild. Sprache ist unser aller Spiegel, sie zeigt, wer wir sein wollen und wie wir zueinander stehen.“3
Auch Jauregui beschreibt Sprache nicht nur als ein passives Produkt eines gesellschaftlichen Systems und seiner Denkmuster, sondern vertritt die Auffassung, dass sie ein System aktiv gestalten und langfristige Veränderungen in der Gesellschaft herbeiführen könne.4 Sie attestiert virtuellen Räume, wie private Chatgruppen oder Soziale Medien, eine subversive Qualität, indem darin sprachliche Mittel frei und aktiv gestaltet und erprobt werden können, weil in ihnen nicht etablierte, gesellschaftliche Verhältnisse herrschten. Jede*r könne darin ihre*seine Rolle selbstbestimmt schreiben und leben, ohne sich Zuschreibungen des Geschlechtes, der „race“5, Klasse etc. stellen zu müssen, durch die soziale Hierarchien des realgesellschaftlichen Alltags reproduziert würden.6 Sprache wird so zu einem ungehorsamen Werkzeug, das umfunktionalisiert wird, nicht mehr realgesellschaftlichen Verhältnissen Folge leistet, sondern die Verhältnisse eines angestrebten Systems vorwegnimmt. Indem diese neue Sprache im realen Raum, unserem Alltag, zur Anwendung kommt, können dadurch langfristig gesellschaftliche Veränderungen bewirkt werden. In der Sprache bzw. ihrer gemeinschaftlich performativen Aushandlung steckt somit ein transformatives und emanzipatorisches Potenzial.

Ungehorsame Werkzeuge
In Marcelles Werk und ihrer Ausstellung im Marta Herford werden Werkzeuge und andere Gebrauchsgegenstände und -materialien zu Metaphern. Sie sind ihrem gewohnten Funktionskontext entrissen – Werkzeuge sind mit Schnürsenkeln umwickelt, Zaunpfähle dicht an dicht und auf den Kopf gestellt einer Wand entlang aufgereiht und Schaukästen mit Pappe verklebt, sodass die Einsicht verwehrt bleibt. So werden die Gegenstände de- bzw. umfunktionalisiert präsentiert und fordern so unsere gewohnte Vorstellung von ihnen, eine vermeintlich feststehende und eindeutige Bedeutungszuschreibung, heraus. Marcelle stellt vertraute Sicht- und Verhaltensweisen, wie wir die Welt sehen und unsere Rolle darin begreifen infrage und macht deutlich, dass Bedeutung immer kontextabhängig konstruiert und entsprechend frei reinterpretierbar ist.
Am Mittwoch, 17.05.23, 18.30 Uhr sprach die Kuratorin Anna Roberta Goetz mit der mexikanischen Aktivistin und Autorin Gabriela Jauregui: Es ging um Strategien, wie etablierte und hierarchisierende Strukturen in der Gesellschaft durchbrochen werden können. Das gesamte Gespräch finden Sie demnächst auf dem Marta-Blog.