„…wie Fremdlinge im eigenen Haus“: Vom Leben mit und aus Distanz
Wer heute durch städtische Straßen, an geschlossenen Kirchen, Theatern und Museen entlang flaniert, den beschleicht nicht selten ein Gefühl seltsamer Fremdheit und Unwirklichkeit. So intensiv wie wir heute das veränderte soziale Leben wahrnehmen, so erscheint es, als würden wir uns alle und alles aus einer unheimlichen Distanz heraus beobachten.
Fast kommt es einem so vor, als würden wir in einer zeitlich unbegrenzten Performance Rollen in einem Stück einnehmen dessen nicht enden wollendes Drehbuch uns bis heute unbekannt geblieben ist. Leben mit Corona – wir erleben gerade, wie wir uns kollektiv an einem veränderten, ja geradezu unwahrscheinlich gewordenen Lebensabschnitt gewöhnen müssen – mit einer Distanz, einem länger andauernden „sozialen Fasten“ (Dirk Schümer, „Vom Luxus des Sozialen Fastens“, Die Welt, 19.4. 2020, S. 49) und einer wahrscheinlicher werdenden Aussicht, dass sich für die Allermeisten die Zukunft noch schmerzhafter verändern könnte.
Distanz, dieser unsinnliche und selbst eigenartig distanziert klingende Begriff, mit dem sich bisher vor allem Soziolog*innen, Psycholog*innen und natürlich auch Künstler*innen beschäftigten, gehört in die ästhetische Theorie und die Begriffswelt der Moderne und wird gerade jetzt von vielen Autor*innen als ein Impuls für ein individuelles „Reset“, als ein willkommenes Moment der eigenen kreativen Mobilmachung begriffen.
Kalte Selbsterkenntnis
Ein kurzer Rückblick in die Geschichte der Distanzierung: Wohl als einer der ersten Autoren der Moderne notiert Friedrich Hölderlin 1799 in seinen „Sieben Maximen“: „(….) es kommt vor allem darauf an, dass die Schönen das Barbarische nicht zu sehr von sich ausschliessen, (…), daß [sic!] sie die Distanz zwischen ihnen und den anderen ist, bestimmt und leidenschaftslos erkennen und aus dieser Erkenntnis wirken, und dulden.“ Distanz, also äußerer und innerer Abstand, so deutet Hölderlin an, bilde die Voraussetzung zu einer möglichst kalten, leidenschaftslosen Selbsterkenntnis – eine Diagnose, die sich durch die gesamte Moderne bis zur heutigen Gegenwart durchziehen wird. Und ebenso von Hölderlin stammt ein Satz, der eine Distanz als Lebensgefühl erahnen lässt: „In diesem Land leben wir, wie Fremdlinge im eigenen Haus.“
Thomas Manns „Tonio Kröger“ (1913) sagt von sich als Künstler, er sei ein „kalter und eitler Scharlatan“, der sich seine Kunst durch „Kaltstellen und Auf-Eis-Legen der Empfindungen erkauft habe“. Und beinahe gleichzeitig entwickelt der Soziologe Georg Simmel in seiner „Soziologischen Ästhetik“ eine gleichsam intime Theorie der künstlerischen Distanz: „(…) die Formen der Künste stellen uns in eine Distanz von dem Vollen der Dinge, sie sprechen zu uns wie aus der Ferne, die Wirklichkeit gibt sich in ihnen (…) nicht mit gerade Sicherheit, sondern mit gleich zurückgezogenen Fingerspitzen.“ Er beschreibt diese ästhetische Erfahrung als ein „Lebensgefühl der Kunst: uns die Dinge dadurch näher zu bringen, dass sie uns in eine Distanz von ihnen stellen.“ Es sind also weniger die Dinge als wir selbst, unserer bewusst gemachten Blicke, die uns die Wirklichkeit wie fremd erscheinen lassen – und dadurch Raum für eigene Reflexionen erfahren lässt. Je mehr wir Momente von Distanz wahrnehmen, desto sensibler werden wir als Wahrnehmende, diese Erfahrungen als besondere Wirklichkeiten zu registrieren. „Um anschauen zu können ist Distanz nötig“, notiert Helmuth Plessner 1948 und Theodor W. Adorno formuliert 1970 kurz und bündig den Zusammenhang als Paradoxie: „Distanz ist die erste Bedingung der Nähe zum Gehalt der Werke.“ (alle Zitate hier)
Soziale Intimität
Heute, auf dem Höhepunkt (?) der Corona-Epidemie, vergleichen wir diese ungewohnt fremd wirkenden, extrem reflektierten Distanz-Erfahrungen erstaunt mit unseren eigenen Seherfahrungen: Wir empfinden beinahe jeden Tag eine neue Form von alltäglicher sozialer Distanz, verstecken die soziale Intimität unseres Gesichts hinter einem kleinen Stofffetzen, werden fast zu Tänzer*innen wenn wir mit plötzlichen Schritten unserem Gegenüber ausweichen und begrenzen Unterhaltungen auf ein Mindestmaß an Kommunikation. Fast so, als wäre uns unsere neue, mühsam erworbene Distanzleistung schon längst in Fleisch und Blut übergegangen. Eine bereits ältere Kunsterfahrung ist seit einigen Wochen zu einer ungeahnt neuen Alltagspraxis geworden, die unsere Lebensrhythmen wohl noch länger beeinflussen wird.
One Reply to “„…wie Fremdlinge im eigenen Haus“: Vom Leben mit und aus Distanz”
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Vielen Dank, es ist ein sehr Interessante Blick auf die Realität. Die Zeit der Stille erlaubt analysieren und beobachten.
Erste Mal in menschliche Geschichte hat der Mensch geschafft die Zeit einhalten.