Wie in einem Traum – immersive Räume
Wer derzeit das Marta besucht, kann sich leicht in den Ausstellungsräumen verlieren. Sechs internationale Künstler*innen haben durch ihre künstlerischen Eingriffe optische Irreführungen geschaffen, die dazu einladen, sich in neue Welten ziehen zu lassen.
Der Begriff “Immersion” bedeutet wörtlich übersetzt “eintauchen” oder “einbetten” und beschreibt die Vorgehensweise, mit der der*die Betrachter*in ganz in den Bann der Ausstellung “Willkommen im Labyrinth” gezogen werden. Irreführungen, optische Täuschungen und verwobene Raumgefüge reihen sich zu einem sinnlichen Erlebnis aneinander. Im Kunst- und Theaterkontext wird der Begriff “Immersion” seit einigen Jahren vermehrt für solche Räume oder Zusammenführungen verwendet, die Grenzen zwischen dem*der Betrachter*in und der Bühne bzw. dem Kunstwerke auflösen. Die klare Trennung zwischen Publikum, Schauspieler*innen und der Bühne wird ebenso aufgehoben, wie die Grenze zwischen Kunstwerk, Künstler*in und Betrachter*in. Vielmehr geht alles fließen ineinander über. Realitäten überlagern sich, man befindet sich sprichwörtlich “mittendrin statt nur dabei”.
Installationen innerhalb von Ausstellungen laden zur Begehung ein, Interaktion ist heute eine verbreitete Spielart der Kunst, die neue Zugänge zu Werken ermöglicht. Das zunehmende Aufkommen immersiver Kunstwerke kann dabei aber nicht als ein kurzlebiger ästhetischer Hype abgetan werden, auch wenn der Begriff inflationär verwendet wird. Beispiele aus der Kunstgeschichte belegen eine lange Tradition des Bestrebens nach Immersion: aufwendige Deckenfresken eröffneten den Blick in das himmlische Reich ebenso wie kleinformatige Tromp l’oeil Malereien illusionistisch Türen und Tore zu scheinbar neue Dimensionen öffneten. Schon damals schuf man mit Kunst Ausblicke in andere Welten. Und auch im Theater gibt es lange schon eine Tradition die Zuschauer*innen aktiv einzubinden und die Stücke von der Bühne zu holen, auch wenn man noch nicht von “immersiven” Praktiken sprach.
Neue virtuelle Welten ersetzen die Wirklichkeit
Heute wird der Begriff “Immersion” vor allem im Bezug auf das Eintauchen in die virtuelle Welt verwendet, in der man sich als Betrachter*in durchaus gänzlich verlieren kann, weil Raum- und Zeitgefühl außer Kraft gesetzt werden können. Unsere Wahrnehmung hat sich durch die digitalen Medien grundlegend verändert, Geschehnisse werden über Bildschirme konsumiert und Immersion bedeutet in diesem Zusammenhang vielleicht auch eine Flucht aus der einen Realität hinein in eine andere Wirklichkeit, die bestimmte Grenzen der ersteren außer Acht lässt. In virtuellen Räumen kann jeder so sein wie er möchte und die klassischen Regeln von Raum und Zeit können kurzerhand über Bord geworfen werden. Immersive Räume ermöglichen Zeitreisen, ebenso wie das Raffen oder Strecken von Zeit. Ereignisse können zu wiederholbaren Sequenzen werden, die vom Avatar des*der Betrachters*in beliebig oft erfahren und bis in den letzten (digitalen) Winkel erforscht werden können. Genau diese Eigenschaften machen sich Künstler*innen und Regisseur*innen von Filmen und Theateraufführungen zu nutze. Sie schaffen ein Erlebnis, das das Publikum so in den Bann zieht, dass die Realität ausgeblendet wird. Virtuelle Welten spielen sich so nicht mehr nur vor unseren Augen auf Bildschirmen ab, sondern werden mittels VR-Brillen, Kopfhörern und Controllern entstehen – teilweise in die Wirklichkeit eingebettet als so genannte Augmented-Realities – Räume in denen wir uns aufhalten und in denen wir schon allein durch unsere Präsenz eigene Erzählungen schaffen.
Dem Künstler über die Schulter schauen
Der deutsche Künstler Jonathan Meese verfasste zu dem Thema jüngst ein VR- Erzmanifest für seinen Mutter-Sohn-Raum, eine digitale Nachbildung seinen Ateliers, die zuletzt im Gropius Bau in Berlin ausgestellt wurde (Link dazu). Darin stellt er den spannenden Vergleich zwischen den virtuellen Raum und einem Traum dar, aus dem er erwacht. Übrig bleibt im virtuellen Raum nur die Kunst, denn mit dem Eintritt in das virtuelle Studio befindet man sich mitten im Kunstwerk. Jeder Pixel, der das virtuelle Bild zusammensetzt, in dem man sich bewegen kann, gehört zum Werk des Künstlers. Jeder noch so belanglose Gegenstand im Atelier wird gleichgesetzt mit den realen Kunstwerken, dem Nachbau des Studios der in Berlin stand und als Hülle für den sich darin virtuellen Raum bildete. Wer den Mutter-Sohn-Raum betritt, findet sich im virtuellen Atelier des Messes wieder. Hier trifft man den Künstler zuerst schlafend an, eher er von seiner Mutter geweckt und aufgefordert wird ein neues Kunstwerk zu schaffen.
Meese präsentiert dem*der Betrachter*in also nicht “nur” ein fertiges Werk innerhalb der Ausstellung, sondern lässt an den Anfang des Werkschöpfung zurückblicken. Im virtuellen Raum können wir dem Künstler immer und immer wieder über die Schulter blicken. Auch in Theateraufführungen, die die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum überwunden haben, verschieben sich die Abläufe. Man bewegt sich zwischen den Schauspieler*innen und die Schauspielenden bewegen sich zwischen dem Publikum. Man befindet sich mitten im Stück, das mit der Umwelt so sehr verschwimmt, dass sich beides nicht mehr voneinander unterscheiden lässt. Die zwei Sphären “gleiten” wie etwa der Berliner Festspiele-Intendant Thomas Oberender feststellt: “Der Begriff „Immersion“ bringt dieses Gleiten auf den Punkt. In welcher Welt leben wir? Wie ist sie beschaffen? Und vor allem: Wer sind diejenigen, die diese Welten schaffen: Sind es wir, ist es Google oder sind es irgendwie ineinander greifende Algorithmen …?” (Link zum Interview)