XXL: Über Größe – Fragen an ein Format
Wie groß kann und muss ein Kunstwerk werden? Sagt Größe etwas über Qualität oder Inhalt aus? Experten für Großes und Übergroßes waren Christo und Jeanne-Claude. Ihre oft akribisch vorbereiteten Aktionen überraschten immer wieder das Publikum, indem sie deren verblüffende Übergröße als ästhetisches Problem zur Diskussion stellten.
Kommentieren Christos verhüllte Objekte nur unsere Sehnsucht nach purem Spektakel, unsere Lust am kindlichen Staunen und purem überwältigt werden? Oder anders gefragt: Wird etwas bereits Kunst, indem es sich allein durch seine profane „Großartigkeit“ zur Schau stellt und so unser Bild von überschaubar intimer Kunst entwertet?
Christo und Jeanne-Claude kombinierten ebenso elegant wie einfallsreich und kalkulierten Nutzlosigkeit mit Größenwahn – eine ziemlich coole Mischung, die man, frei nach Walter Benjamin, als Inszenierung eines auf die große Masse hin kalkuliertes Kunstritual beschreiben könnte. Anders als in früheren Zeiten, in denen Denkmäler feierlich enthüllt wurden, geschah hier bewusst das Gegenteil: etwas Verhülltes blieb verhüllt und machte sich damit selbst zum Thema von Kunst. Die heute naheliegende Frage nach der buchstäblichen Übergröße von Kunst(-dimensionen) macht dabei die Antworten die man geben kann nur umso komplizierter: Wie hängt die (Über-)Größe eines Werks mit dessen aktueller ästhetischer Botschaft zusammen?
Katharina Grosse, ebenfalls eine Meisterin nicht unbescheidener großer Gesten, hat soeben den Hamburger Bahnhof, wie man lesen kann, in einen „gewaltigen Farbenrausch verwandelt.“ In der Tat: Die veröffentlichten Bilder von Grosses Berliner Farbraumexplosion sind spektakulär, ziehen ihr Publikum förmlich in den Strudel von ineinanderlaufenden Farbverläufen hinein. Doch spektakulär ist auch, dass diese Installation mehrfach lesbar ist: als eine Anspielung auf das Erhabene bei C.D. Friedrich; als kunstpolitisches Statement, als machtvolle Markierung eines Ausstellungsraumes, der bald zum Abriss und zur Gentrifizierung freigegeben wird, als zeitlich perfektes Timing der Wiedergeburt des Kunstbetriebs nach Corona. Eine Arbeit also, die nicht nur so tut als wäre sie spektakulär, sondern bis in jedes Moment ihrer Erscheinung auch Spektakel zelebriert. Das Publikum wird es gerade nach der langen Enthaltsamkeit von Kunstevents zu schätzen wissen. Doch Grosses Farbenrausch muss sich Kritik gefallen lassen: „Was wäre eine Frage, die ein Museum an Katharina Grosses Werk stellen könnte, die sich anders beantworten ließe als in Größenordnungen?“ (Kolja Reichert, FAZ . v. 21. Juni 2020, S. 46).
Unterhaltung trifft Provokation
Ähnlichen Sinnesrausch und gezielte Augenüberwältigung praktiziert man zur Zeit auch in Bordeaux, wo ein ehemaliger deutscher U-Boot-Bunker aus dem Weltkrieg zu einer gruselig-schönen Multimedia-Halle umgewidmet wurde und garantiert schon allein deshalb wie eine sciencefictionmäßige Aufmerksamkeitsmaschine erfolgreich sein wird. Und schließlich noch ein drittes Beispiel für die gerade spürbare Tendenz, banale Dinge groß aufzublasen, Effekte bis zur Schmerzgrenze zu treiben: 1970 plante Wolf Vostel einen utopischen „Entwurf für ein Drive In Museum“. Mitten auf einem Autobahnkreuz sollte ein 50 mal 50 Meter großer Fernsehbildschirm „jeden Tag ein neues Kunstwerk? projizieren. Innen: Hotel, Bibliothek und Videoservice in jedem Raum abrufbar.“ Fernsehen, Kunst, Autobahn, Bildung – so optimistisch-zukünftig plante Vostell seine Ideen für einer noch nicht realisierte spätere Zeit.
In vielen ähnlichen Fällen, in denen Künstler*innen auf visionäre, den Alltag verfremdende Spektakel setzen, wird das Publikum tendenziell zur bloß staunenden Masse zurückgestuft. Angesichts der rhetorischen Frage ob (Über-)Größe heute ein relevantes Kriterium von Kunst geworden ist, kann die Antwort nur heißen: wohl eher nicht. So viel heiße Luft, wie sie Künstler*innen mit ihren XXL-Vorlieben gerade inszenieren, kann man gar nicht schnell genug abkühlen lassen. Die Grenzen zwischen zu bestaunenden Show-Effekten und kritischem Kunst-Anspruch werden wahrscheinlich immer mehr unkenntlich werden.
Aufmerksamkeitssteigerung
Das Risiko, mit dem heutige Kunst die Gesellschaft provoziert, besteht in der Möglichkeit, dass sie aus Beliebigkeit Funken schlägt. Spätestens seit der Pop-Art sind Effekte von Beliebigkeit und Banalität zu einem Format zeitgenössischer Kunst geworden. Die schiere Größe gilt in der Kunstwelt heute als unterhaltsame Version von zeitgenössischer Erhabenheit. In allen Fällen gilt hier das Prinzip der medial verwertbaren Aufmerksamkeitssteigerung, die plötzlich immer dann entsteht, wenn Elemente von Unterhaltung mit Momenten von Provokation gemixt werden.
So zeigt sich gegenwärtig ein zugespitztes Verhältnis zwischen Kunst und Publikum, genauer: zwischen Publikumsaffekten und Kunstformaten, die die Faszinationskraft von Übergroßem gnadenlos ausbeuten. Zwischen künstlerischer Freiheit, kritischer Performance, warenästhetischer Instrumentalisierung und social media-kompatiblem Massenevent bestehen heute immer weniger Berührungsängste. Die schiere Lust an der Größe ist dabei inzwischen auch zu einem Thema der Kunstgeschichte geworden wie Éléa Baucheron und Diane Routex in ihrem Band „XXL. Kunst, die den Rahmen sprengt“ (2014) nachgewiesen haben.
Kunst – bis vor drei, vier Jahrzehnten noch ein vorwiegend gut-bürgerliches Bildungsgut – ist längst zu einer stark nachgefragten Form öffentlicher Unterhaltung geworden, die heute zwischen zeitgenössischer Gesellschaftskritik, massenkompatibler Bildungsshow und exklusiver Kapitalanlage oszilliert. Wo bleibt dann aber eigentlich der Auftrag kritischer Aufklärung seitens öffentlich finanzierter Ausstellungshäuser? Wäre es nicht an der Zeit, dass sich ein Ausstellungshaus einmal der Geschichte übergroßer Werkformate widmen würde? Ein Titel könnte vielleicht sein: XXL. Zur Zukunft großer Kunst.