Zwischen Aktivierung und Aktivismus – Ein Interview mit Pedro Reyes
In dem Werk von Pedro Reyes steht der Mensch als Mitglied einer Gemeinschaft im Mittelpunkt. Der Künstler untersucht gezielt Gruppendynamiken, um kommunikative Prozesse anzuregen. Gleichzeitig bezieht er partizipatorische Ansätze mit ein, so dass die Besuchenden vor Ort selbst aktiv werden und anderen Menschen begegnen können. Das Werk verkörpert auf diese Weise auch einen ungebrochenen utopischen Willen, wie er sonst in Europa kaum noch zu finden ist. Reyes möchte die Gesellschaft zu einem Besseren entwickeln und schlägt dabei immer wieder gezielt die Brücke zum Theater, zur Soziologie und Psychologie, sowie zum politischen Aktivismus.
Bereits seit vielen Jahren beschäftigt sich Pedro Reyes intensiv mit dem Thema Gewalt. Es ist ihm ein großes Anliegen, etwas Negatives und Zerstörerisches in etwas Positives und Kreatives zu verwandeln. So hat er beispielsweise in einer umfassenden Aktion aus dem Metall von Schusswaffen Schaufeln gegossen, mit denen nun – wie auch im Rahmen der Ausstellung „Sociatry“ im Museum Marta Herford – Bäume gepflanzt werden können. Seit 2019 beschäftigt sich Pedro Reyes darüber hinaus mit dem Thema der nuklearen Bedrohung. Durch den Krieg in der Ukraine ist dieses Thema aktuell wieder stärker ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gerückt. Damit scheinen die im Museum Marta ausgestellten Arbeiten, so aktuell wie nie zuvor. Im März 2022 sprach die Kuratorin der Ausstellung Friederike Fast mit dem Künstler über diese sozialpolitischen Facetten seiner Arbeit.
Friederike Fast (FF): Viele deiner Arbeiten besitzen eine ausgeprägte soziale Dimension. Ganz gleich, ob wir bei „Citileaks“ unsere Geheimnisse miteinander teilen, anderen Menschen mit Hilfe der „Goodoos“ etwas Gutes wünschen oder aber bei „Museum of Hypothetical Lifetime“ und „Philosophical Casino“ Fragen des Lebens gemeinsam verhandeln – all diese Arbeiten basieren auf einer aktiven Teilnahme der Besuchenden und regen eine Interaktion zwischen den Teilnehmer*innen an. Warum ist diese Form von Gemeinschaftserlebnis ein so wichtiger Bestandteil deiner Arbeit? Und welche Rolle spielen die Kreativität der Gruppe und der Begriff „Kollaboration“ in diesem Zusammenhang?
Pedro Reyes (PR): Einer meiner Mentoren, den ich am meisten schätze ist der kolumbianische Mathematiker und ehemalige Bürgermeister von Bogotá Antanas Mockus. Er hat mir einmal eine Skulptur beschrieben, die er sich folgenderweise vorstellte: Eine Gruppe aus vielen menschlichen Figuren, die einander in Stein meißeln. Mit Hammer und Stemmeisen in der Hand ist diese Gruppe damit beschäftigt, sich gegenseitig zu modellieren. Diese Allegorie zeigt, wie unsere eigenen Handlungen andere Menschen formen. Für mich ist das eine sehr kraftvolle Metapher, denn hier ist der „Andere“ kein isoliertes Individuum, sondern ein Individuum, das durch unsere Vorstellungen geformt wird. Zugleich sind wir selbst ein Nebenprodukt der Handlungen, die andere uns „antun“.
FF: Walter Benjamin formulierte in seinem Buch „Der Autor als Produzent“ ein Plädoyer dafür, dass aus Konsument*innen – ganz im Brecht’schen Sinne – Produzent*innen werden. Ist dir dieser Ansatz vertraut? Und wie hängen in deinen Augen diese Aspekte von Teilnahme in der Ausstellung und einer Teilhabe in der Gesellschaft zusammen?
PR: Wenn wir die Gesellschaft im Kontext der Allegorie von Mockus betrachten, heißt das, dass unsere Interaktionen kunstvoll sein sollen. Wir sollten stolz darauf sein, wie gut und schön wir sie gestalten können. Aber noch wichtiger ist, dass sie plastisch sind. Psychologische Veränderungen sind schwer herbeizuführen, wenn sie nur in unserem Kopf stattfinden. Wenn man aber stattdessen eine körperliche Tätigkeit ausübt und mit den Händen an einem Gegenstand arbeitet, führt die Anordnung der physischen Elemente unweigerlich zu inneren Veränderungen. Deshalb hat der Mensch auch Rituale erfunden. Das ist der Kern der sozialen Plastik: Die Hardware ist notwendig, um auf die Software zuzugreifen.
Wie in der Allegorie der Gruppe, die sich gegenseitig formt, ergibt sich Gutes aus der Durchmischung verschiedener Stimmen. Aber es muss Filter geben. Wenn es keine Struktur gibt und die Menschen einfach nur Kreide in die Hand bekommen und man sie schreiben lässt, was sie wollen, wird es keine interessanten Beiträge geben. Sofern die Frage aber lautet: „Wenn du Bürgermeister deiner Stadt wärest, was wäre deine erste Amtshandlung?“, wird diese einen Prozess in Gang setzen, der viel reichhaltiger sein wird.
Künstler verstoßen nicht gegen Regeln, sondern fügen weitere Regeln hinzu. Ein soziales Experiment kann sowohl als Forschungsstudie funktionieren als auch gleichzeitig therapeutisch wirken (und Spaß machen).
Das „Sanatorium“ läuft seit zehn Jahren und der Grund dafür ist das Eigeninteresse der Teilnehmenden. Diese Ausstellung kann man nicht besuchen, ohne an einer der Aktivitäten teilzunehmen. Interessanterweise setzt dies eine Vielfalt an Erkenntnissen in Gang und es ergeben sich daraus unzählige Offenbarungen. „Citileaks“ erzeugt eine Enzyklopädie der Geheimnisse, „Philosophical Casino“ ein Buch mit Fragen und „The Amendment to the Amendment“ eine Reihe von Variationen eines Gesetzestextes. Anstatt mit jemandem darüber zu streiten, ob man Recht hat oder nicht, gibt es all diese Handlungswiederholungen, die zeigen, wie viele unterschiedliche Ergebnisse doch tatsächlich möglich sind.
FF: Für „pUN“ hast du eine große Gruppe Menschen eingeladen, eine Konferenz nach dem Vorbild der Vereinten Nationen abzuhalten. Doch im Gegensatz zu offiziellen UN-Deligierten handelte es sich bei den Teilnehmenden um ganz „normale“ Bürger*innen, die über wichtige geopolitische Fragen verhandelten. Inwiefern verstehst du Kunst als ein politisches Werkzeug, das einen realen gesellschaftlichen Wandel hervorrufen kann? Und wo ziehst du hier die Grenze zwischen Spiel und Ernst beziehungsweise zwischen Fakt und Fiktion?
PR: Für Außenstehende mag „pUN“ nur wie ein Spiel erscheinen. Und es ist ja auch ein Spiel – das ist genau der Punkt – und du musst Teil des Spiels sein. Es ist ein Bereich zum Ausprobieren, in dem die Angst vor einem möglichen Scheitern für eine Weile außer Kraft gesetzt wird. Spiele helfen uns, das Bild, das wir uns von uns selbst und auch von anderen haben, zu verändern. Wenn man sich auf sie einlässt, dann werden sie so gut wie das was man in sie investiert. Das Ergebnis resultiert aus dem Input, so dass ein Spiel am Ende wirklich gut und daher transformativ sein kann. Das ist viel mehr als das, was im Rahmen der strengen akademischen oder diplomatischen Regeln möglich ist. Eine Veranstaltung mit über 190 Vertreter*innen aus verschiedenen Ländern, wie bei „pUN“, ist zwar im Grunde ein großes Spiel, aber sie ist ja auch eine echte Konferenz. In der Kunst führen wir diese säkularen Rituale durch und nehmen sie immer noch sehr ernst.
Die Menschen, die daran teilnehmen, spielen eine Rolle – dabei repräsentieren sie nicht sich selbst als Individuum, sondern ihr Volk, ihre Nation. Das heißt aber nicht, dass sie dabei ihre eigenen aktuellen Regierungen gutheißen müssen. Es ist vielmehr eine Form der direkten Diplomatie.
FF: Mit Projekten wie „Palas por Pistolas“ gehst du noch einen Schritt weiter: Hier hast du – wie auch bei anderen Arbeiten – ein eindeutiges politisches Statement gegen Waffengewalt und Aufrüstung formuliert. Du bist außerdem aus dem Museum hinaus in den öffentlichen Raum getreten, als du zum Beispiel eine Fernsehkampagne ausgestrahlt hast, um Schusswaffen zu sammeln. Die Maßnahme 1.527 Waffen zu sammeln und in ebenso viele Schaufeln zu verwandeln, um damit Bäume zu pflanzen, ist ein starker symbolischer Akt.
Er erinnert er nicht nur an die Arbeit „7000 Eichen“ von Joseph Beuys, sondern zugleich an das biblische Zitat „Schwerter zu Pflugscharen“, welches auch ein geflügeltes Wort der Abrüstungskampagnen in der DDR sowie der westlichen Friedensbewegung wurde. Die Plakate der „Disarm“-Arbeit scheinen darüber hinaus gezielt der Ästhetik von aktivistischen Flugblättern nachempfunden. Welche Nähe ergibt sich für dich zum politischen Aktivismus und welche besonderen Stärken siehst du hier bei der Kunst?
PR: Bildhauerei bedeutet, den Dingen eine Form zu geben, Materie zu verändern. Wenn ich, wie in „Palas por Pistolas“, Schusswaffen in Schaufeln verwandle oder in Musikinstrumente, wie in „Disarm“, gebe ich Waffen eine andere Form und auch eine andere Funktion – eine, die das Gegenteil von dem ist, wofür sie ursprünglich gedacht waren. Aus Tod und Angst wird Musik und Zuversicht. Es ist also eine Art alchemistische Transformation: Die physische Umwandlung des Metalls verändert zugleich die Objektwahrnehmung. Sie ist ein Katalysator. Die Wirkung des Objekts auf die Umwelt ist real, aber sie erzeugt auch ein überzeugendes Bild.
Es ist außerdem wichtig, dass der Prozess auf andere übertragen werden kann. Ich denke, dass diese Ressourcen in der sozialen Plastik mit anderen geteilt und von anderen umgesetzt werden müssen. Denn Ideen sind doch nur dann wirklich nützlich, wenn sie später von anderen übernommen werden. Das bedeutet, dass sie Hand in Hand gehen mit dem Wunsch nach Veränderung in der Welt. Wenn man Aktivismus ernst nimmt, so muss das Ziel darin bestehen, Veränderungen herbeizuführen. Und wenn man den Anspruch erhebt, Veränderungen herbeizuführen, muss es eine Möglichkeit geben, diese zu messen, damit sie nachvollziehbar sind. Das kann auf zwei Arten geschehen, zum einen durch direkte Aktion und zum anderen durch Einflussnahme auf die öffentliche Politik.
Bei „Palas por Pistolas“ zum Beispiel, für das eine bestimmte Anzahl von Schusswaffen zerstört wurde, wird für jede Waffe mindestens ein Baum gepflanzt. Jede Pflanzung wird dokumentiert, und so gibt es messbare Veränderungen. „Tlacuilo“ ist ein weiteres Projekt, bei dem die Veränderung durch direkte Maßnahmen messbar ist. Andere Projekte, die Einfluss auf die Politik nehmen, sind zum Beispiel „Amendment to the Amendment“ oder „Amnesia Atómica“, bei denen ich NGOs unterstützte, die an der Änderung von Gesetzen arbeiten und dafür Sichtbarkeit oder ein Sprachrohr brauchen, um ihre Botschaft zu vermitteln.
FF: Im Mai dieses Jahres wirst du deine Arbeit „Stockpile“ auch in New York zeigen, um gegen die weltweite Aufrüstung zu demonstrieren. Sie besteht aus weißen Ballons in Form von Raketen. Dabei spielt die Menge der Objekte erneut eine zentrale Rolle: Die überwältigende Zahl von 13.500 Lenkflugkörpern weltweit wird durch ebenso viele Ballons repräsentiert. Diese werden mit einer New Yorker Tageszeitung an die Haushalte der Stadt verteilt. Was genau steckt hinter der Entscheidung, kostenlose Multiples zu verschenken? Ist es auch der Wunsch, Barrieren zwischen dem Publikum und deiner Kunst abzubauen – im Gegensatz zu den hochpreisigen Unikaten in den Museen?
PR: Das Engagement für die nukleare Abrüstung stellte für uns eine große Herausforderung dar, weil es niemanden interessierte. Obwohl die Millennials und die Generation Z mal was von Atomwaffen gehört hatten, spielten diese für sie bis zum jetzigen Zeitpunkt nur eine zweitrangige Rolle. Und die Generation X und die Boomer, die mit der Angst vor der Zerstörung der Welt aufgewachsen sind, wollten sich lieber nicht an dieses Gefühl erinnern. In den 1970er und 1980er Jahren ist dieses Anliegen wirklich präsent gewesen, aber jetzt war es komplett aus der Mode gekommen. Oft erhält Aktivismus einen Auftrieb, wenn sich eine Gruppe mit einem Thema identifiziert und sich dafür begeistert. Ich habe mal gehört, dass es ein Privileg sei, sich für Atomwaffen zu interessieren, weil es bedeutet, dass man nicht zu einer echten Randgruppe gehört – in Bezug auf Gender, ethnischer Herkunft oder sexuelle Präferenzen.
Aber im Jahr 2022 erweitern alle Atommächte ihre Arsenale. Wir befinden uns in einem stillen neuen Wettrüsten mit schnelleren und leichter einsetzbaren Waffen. Die „kleinen“ Atomwaffen von heute entsprechen 1.000 Fukushimas. Doch die meisten dieser Informationen wurden lange vor der Öffentlichkeit verschwiegen.
„Stockpile“ macht die Atomwaffen sichtbar. Ich habe eine Vorstellung von diesen Ballons – 13.500 Stück an der Zahl – wie sie zum Beispiel auf der National Mall in Washington DC oder auf dem Roten Platz in Moskau zusammenkommen. Das wäre eine ziemlich große Skulptur. Aber meine Idee ist auch, die Ballons zu verteilen. Denn wenn du einen der 13.500 Ballons in der Hand hältst, bedeutet dies auch, dass du niemand anderem außer dir selbst die Schuld für die eigene Untätigkeit geben kannst. Es geht darum, die Menschen zum Nachdenken über folgende Frage anzuregen: „Wie fühlt es sich an, die Zukunft der Welt in den Händen zu halten?“
FF: Öffentliche Bibliotheken sind in gewisser Form Orte gelebter Demokratie, indem sie allen Menschen den Zugang zu Büchern ermöglichen. In deiner Arbeit „Tlacuilo“ greifst du diese Idee auf. Warum erfindest du deine eigene Bibliothek gerade in Zeiten, in denen öffentliche Bibliotheken eher sinkende Nutzerzahlen verzeichnen?
PR: Für mich ist „Tlacuilo“ eine soziale Skulptur. Das Konzept der Bibliothek ist inspirierend, weil es Zugang zu physischen Objekten gewährt, ohne vom Markt beherrscht zu sein. Ich war frustriert, als Bibliotheken in Mexiko die Ausleihe von Büchern einstellten, weil sie befürchteten, dass die Leute sie nicht zurückgeben würden. Aber ein Buch, das für immer sicher weggesperrt wird, könnte genauso gut gar nicht existieren. Man muss ein Buch überallhin mitnehmen können: in den Bus, in die Schlange im Einkaufsladen, auf die Toilette, ins Bett. So kam mir die Idee einer App, die wie ein universeller Bibliotheksausweis funktioniert. Diese Idee habe ich im kleinen Rahmen zuhause weiterentwickelt, indem ich meine eigene Bibliothek zur Ausleihe bereitstellte und meinen 14-jährigen Sohn die App entwickeln ließ. Inzwischen gibt es sechs weitere teilnehmende Bibliotheken – die vorher nie Bücher ausgeliehen haben – und mehr als 500 regelmäßige Nutzer.
Die Bibliothek des Carrillo Gil-Museums in Mexiko-Stadt leiht auch Schallplatten und Kunstwerke aus. Aber noch wichtiger ist, dass die Nutzer der App ihre eigenen Profile erstellen und selbst zu Bibliothekar*innen werden, die ihre eigenen Sammlungen an andere Nutzer*innen weitergeben.
Ich sehe dies als den Beginn einer alternativen Wirtschaft, in der wir uns gegenseitig nicht nur Bücher, sondern alle Arten von Gegenständen ausleihen. All unsere Besitztümer verfügen über überschüssigen Kapazitäten, die auch sinnvolle soziale Interaktionen fördern können. Indem wir diese Objekte anderen zur Verfügung stellen, knüpfen wir Kontakt zu Menschen mit ähnlichen Interessen und bringen unser Vertrauen in sie zum Ausdruck. Dies kann für beide Seiten ein erfüllendes Gefühl sein.
Die ultimative Utopie besteht darin, keine materiellen Gegenstände mehr zu besitzen, sondern sie vielmehr zu hüten oder zu verwalten und sie anderen Menschen zur Verfügung zu stellen. Mit Hilfe von modernen Technologien kannst du messen, wie viel Objekte du selbst für andere in Umlauf bringst und wie viele dir durch andere zur Verfügung gestellt werden, ohne einen Cent dafür auszugeben. Die Anzahl der Gegenstände wird erfasst und kann exakt bestimmt werden. Dennoch ist dies das genaue Gegenteil von Kapitalismus: Je mehr dir zur Verfügung steht, desto mehr sparst du. Je mehr du verleihst, desto mehr gewinnst du. So zeichnet die App quasi deine Großzügigkeit auf. Dein „Kapital“ wird daran gemessen, wie vertrauenswürdig du bist. Ich betrachte dies als Untergang der Kryptowelt.
FF: Mit deiner künstlerischen Haltung stehst du in einer Tradition der modernen Avantgarde mit ihren gesellschaftlichen Utopien, die in der europäischen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg bei den Situationisten oder auch bei Joseph Beuys, der den Begriff der „Sozialen Plastik“ prägte, eine Fortführung fanden. Wie verortest du dich selbst in dieser Traditionslinie beziehungsweise welche entsprechenden Bezugspunkte gibt es für deine Arbeit in der Kunst Lateinamerikas?
PR: In Lateinamerika, insbesondere in Mexiko, erwartet man von der Kunst üblicherweise, dass sie eine soziale Funktion erfüllt. Am stärksten ausgeprägt war dies in der Zeit des Muralismus (Wandmalerei), der im postrevolutionären Mexiko in den 1920er Jahren begann, bis in die 1960er Jahre andauerte und auch heute noch relevant ist. Diesen sozialen Ansatz gibt es auch in der Literatur, Musik oder Architektur. Wir beziehen uns auf die soziale Plastik in Form von Partizipationsprozessen. Mein Ansatz ist demnach stark von lateinamerikanischen Künstler*innen und Aktivist*innen wie Augusto Boal mit seinem „Theater der Unterdrückten“ und anderen wichtigen klugen Köpfen wie dem kolumbianischen Philosophen, Mathematiker und Politiker Antanas Mockus, dem österreichisch-amerikanischen Autor, Philosophen und Theologen Ivan Illich, der mexikanischen Theaterregisseurin und Performance-Künstlerin Jesusa Rodríguez und dem brasilianischen Pädagogen und Autor Paulo Freire geprägt.
Gleichzeit möchte ich betonen, dass ich ebenfalls an die soziale Rolle traditioneller Kunstformen glaube. Die Bildhauerei oder die Malerei im klassischen Sinne können auch wichtige soziale Anliegen zum Ausdruck bringen, ohne dass sie das Ergebnis eines partizipatorischen Prozesses sind. Manchmal müssen Künstler*innen ganz für sich arbeiten. In vielen Fällen, insbesondere bei einem dauerhaften öffentlichen Beitrag, bist du als Künstler*in dafür verantwortlich, der Welt ein belastbares, vollständig ausgearbeitetes und überzeugendes Werk zu präsentieren. Und dies erfordert oft, dass die Kunstschaffenden alle Freiheiten zugestanden bekommen, um sich auch um die kleinsten Details zu kümmern. Die meisten Kunstwerke können nicht in einem demokratischen Prozess geschaffen werden.
Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt. Bei einigen meiner Arbeiten steht die Partizipation ganz im Mittelpunkt, und viele andere Werke sind das Ergebnis ganz persönlicher Überlegungen, aber ihre politische Relevanz wird nicht durch das Medium bestimmt.
FF: Eine deiner ersten Arbeiten, die eine breitere Aufmerksamkeit erhielten, war „La torre de los vientos“ – der Turm der Winde. Dafür hast du einen turmartigen Experimentalbau von Gonzalo Fonseca in einen laborartigen Ausstellungsort verwandelt, in dem unterschiedliche Akteur*innen zusammenarbeiteten, um weiterführende Prozesse in Gang zu setzen. Steckt in deinem ergebnisoffenen Ansatz grundsätzlich auch eine Institutionskritik? Und was wäre für dich das ideale Museum?
PR: Ich habe die Theorie, dass Museen wie Kühlschränke oder Öfen funktionieren können. Kühlschränke arbeiten mit kontrollierten Temperaturen und Einstellungen, die perfekt sind, um etwas für eine lange Zeit, ja für die Nachwelt aufzubewahren. Museen sind aber auch wie Öfen, wenn sie eine neue Realität „kochen“ und zu Produktionsräumen werden. Viele meiner gewagtesten Projekte wären ohne die fantastische Kunstküche eines Museums nicht möglich gewesen. Ich bin kein großer Freund von Institutionskritik. Normalerweise denke ich in Begriffen wie institutionellem Handeln. Ich möchte innerhalb von Institutionen Veränderungen bewirken. Institutionen unterscheiden sich nicht so sehr von Individuen.
Kritik ist nicht der beste Weg, um wirklich Veränderungen anzuregen. Die Cancel Culture erinnert heutzutage ganz gefährlich an Mobbing. Kritik ist allzu oft eine Form der Beschwerde. Und Beschwerden sind eine hinterlistige Art, sich der Verantwortung zu entziehen. Wo sind die Kritiker, denen es darum geht, Wege zu finden, eine konkrete Situation zu verbessern? Es gibt eine Art Grundsatz kognitiver Prozesse: Entweder man konzentriert sich auf das Problem oder man konzentriert sich auf die Lösung. Wenn du dich auf die Lösung konzentrierst, erkennst du das Problem bereits an, ohne dabei jedoch die Menschen herabzusetzen.
Daher ist es immer wichtig, Lösungsansätze zu finden. In dem eben erwähnten Beispiel des Carrillo Gil-Museums hätte ich zum Beispiel kritisieren können, dass die Bibliothek seit seiner Eröffnung vor 50 Jahren überhaupt gar nicht genutzt wurde. Aber was hätte das gebracht? Stattdessen haben wir Mexikos erste Leihbibliothek für Kunst eröffnet. Kunstwerke sind sogar noch seltener – ja sogar teurer – als die meisten Bücher. Also wussten wir, dass die Bücher folgen würden, sobald wir mit der Ausleihe von Kunst beginnen. Hier ist es uns also gelungen, die Stärken einer Institution zu nutzen und ihre Schwächen zu beheben.
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