Die Betrachter – Eine systemrelevante Größe
Im Museum gewesen – Besucher betrachtet: Je expliziter man seine Darstellung beginnt, desto vielfältiger kann das Ergebnis ausfallen und desto weniger sind Sie als lesender Leser abgelenkt: Die Betrachter – das sind heute viele und vieles in einer Person und in unterschiedlichen Kontexten.
Eine systemrelevante Größe
Im speziellen Kunst-Kontext sind Betrachter heute jedenfalls längst mehr als ein nur rein konsumierender Besucher. Sie sind eine große, wenn man so will, eine systemrelevante Größe. Als mehr oder weniger interessierte Beobachter werden heute Betrachter vom Künstler in jeder Hinsicht in ein Werk und sein grenzenloses Geschehen hineingezogen. Schon vor Jahren sprach Wolfgang Kemp vom impliziten Betrachter und meinte damit, dass der Betrachter als historische Größe vom Werk vorgesehen sei. Mit dieser Definition erweiterte Kemp das Geschehen im Werk auf eine fast grenzenlose Weise weit in den Raum und die Lebenszeit ihrer Betrachter.
Der Betrachter als (Co-)Produzent
Ohne Betrachter, also ohne anteilnehmendes Publikum, ist es für Künstler heute nicht mehr möglich, Werke zu produzieren, die als Kunst oder inzwischen auch wie kunstfremde Artefakte betrachtet werden. Doch Betrachter sind inzwischen von bewundernd staunenden Rezipienten längst zu vorgebildeten, anspruchs- und erwartungsvollen (Co-)Produzenten geworden. Erst im wechselseitigen Dialog und im möglichst engen Kontakt mit den Ideen des Künstlers (oder dem, was man dafür hält) vollende sich so der immer noch gerne verbreitete Mythos, der Sinn von Kunst in der Gesellschaft. Dass sich im Umgang mit Kunst auch Streit und Debatten um die politische Funktion von Kunst offenbaren, wird in der heutigen, nicht mehr so selbst zufriedenen Gesellschaft wohl zukünftig zunehmen.
Kunst als unsichtbarer Spiegel
Nicht mehr interpretierbare Bedeutungen stehen heute im Mittelpunkt: Je nach Kontext bilden wählbare Vergleiche und Schlussfolgerungen von möglicher und komplexer Kommunikation nun den Zugang zu dem, was früher einmal etwas naiv „Werk“ genannt wurde. Das, was heute gerne Kunst genannt wird, wirkt wie ein unsichtbarer Spiegel. Je länger man (sich) hier beobachtet, desto gegenwärtiger und sich gerade selbst verändernd erscheint man im Moment eines eigenen Rückblicks. „Man fühlt (sich) anders, man ist ein Anderer, wenn man aus einer eindrucksvollen Ausstellung kommt oder vor einem schönen Bauwerk stehen bleibt.“ notierte Niklas Luhmann beispielsweise auf einem undatierten Zettel aus dem Ordner KUNST.
Heute geht es – nicht nur aber auch in der Kunst – darum, wie ein Geschehen exklusive inszeniert wird, wie eine besondere Leistung aus einem Außenbereich in das Innere eines Geschehens verlagert wird und dort für das Publikum im Moment seiner Verwandlung selbst erkennbar gemacht wird. Früher ging es noch eher um die Frage, ob der Betrachter überhaupt Zugänge zu einem Werkgeschehen findet und weniger darum, wie man sich als eine historische Betrachterfigur jetzt und neu erfährt. „Voraussetzung dafür, dass ein Kunstwerk überhaupt eine Funktion erfüllen kann: der Kontakt des Betrachters mit dem Originalwerk.“, notierte die Kunsthistorikerin Hanna Deinhard im Jahr 1960. Wobei sie nicht näher ausführte, wie man sich diesen „Kontakt“ vorzustellen habe.
Eine Verwandlung explizit machen
Der Kunst-Betrachter ist mittlerweile zu einem Alleskönner geworden, der immer mehr und immer schneller in immer weniger Zeit leisten muss. Gerade im Umgang mit und durch den Besuch von Ausstellungen sind Betrachter heute deutlich kreativer und wandlungsfähiger als noch in früheren Zeiten. Betrachter verknüpfen diese unterschiedlichen Kontexte miteinander, steigern sich permanent in ihren Ansprüchen und vergleichen so auch unterschiedliche Eigenschaften und Fähigkeiten, Ideen und Ansprüche. Kunst und Medien, Texte und Bilder, Darstellungen und Selbstverwandlungen werden wechselseitig als austauschbare Artefakte und exklusive Atmosphären erlebt. Fragen nach der eigenen Identität als Betrachter sind heute zu Fragen der Inszenierung von Stilfragen, Erkenntnisansprüchen oder eines äußeren „Exklusivitätdesigns“ (Wolfgang Ullrich) geworden. Von Wolfgang Ullrich stammt auch ein eigenwilliger, explizit zeitgenössischer Vergleich von Kunst mit einer Form, die einen Zugang zu eben dieser festhält – nämlich den Moment, in dem ein Sammler zum Besitzer wird: „Vielleicht liegt sogar der Ursprung jeder Kunstreligion in einer Besitzerfahrung. So darf sich der Besitzer in ein Geheimnis eingeweiht fühlen, in der Rolle des Priesters eines Heiligtums wähnen.“ Doch anders als der Besitzer, der Kunst als Ware betrachtet, besitzt der Betrachter Kunst eben nicht, um sie zu besitzen, sondern sich von ihr wie in einem Moment der ästhetischen Kommunion verzaubern zu lassen. Auch und gerade dann, wenn sich die Funktion von Kunst heute längst nicht mehr definieren lässt. Eine Verwandlung explizit machen – so heißt heute auch im Kunstkontext die Devise.