Haltung in Unruhe: Bilder eines Publikums
Es gibt Themen und Ideen, die lassen einen so einfach nicht los. Für alle, die in der Kunstwelt tätig sind, klingt etwa der Begriff des Publikums so als wäre dieser selbstverständlich.
Doch gibt es – hier und heute – keine soziale Institution der Moderne, die sich selbst so weniger wahrnimmt und wirklich kennt wie das Publikum. Gerade in der Kunst werden Erfahrungen und Phänomene vermittelt, die durch ihr Erklärtwerden nicht einfach verschwinden, sondern im Gegenteil komplexer und trotzdem einfacher werden. Dazu gehört die Frage, wie aktuelle Formen des Kunstbetrachtens ein Publikum in Akteure mit eigenständigen Ideen verwandeln und deren Haltungen in Unruhe versetzen können.
Umbruch mit Erfahrungen
Das bildungsbürgerliche Kunstpublikum des 19. Jahrhunderts liebte die anerkannten Formen von Kunst und wartete gleichzeitig auch darauf Ressentiments bestätigen zu können – was die KünstlerInnen dann nicht selten beflügelte genau diese Erwartungen zu unterlaufen. Honoré Daumier (1808—1879) war ein sensibler Zeitzeuge der Wechselbeziehungen zwischen Publikum, Kunst und Künstlern. Was Daumier in seinen Zeichnungen durch die Reaktionen seiner dargestellten Betrachter offenbar werden lässt, ist eine neuartige, ja aktuelle Perspektive: Die Betrachter sollen sich aus der Sicht eines Bildes über die unterschiedlich deutbaren Reaktionen des Publikums wundern. Durch diesen Trick macht Daumier deutlich, dass die Beziehung zwischen Publikum und Werk keine statische, sondern immer auch eine umkehrbare Relation darstellt.
In einem spezifisch modernen Setting werden die Menschen selbst zum Betrachter des Publikums, über Dinge oder Situationen werden künstliche Zugänge erschaffen. Das bisherige Verhältnis von Innen und Außen, Betrachtern und Publikum wird neu wählbar und dynamisch. Die Folge ist eine zeitgenössische Erfahrung, ein fast einschneidender Erfahrungsbruch: Das Publikum wird doppelt angesprochen (bzw. instrumentalisiert): als Teil seiner eigenen eingeschlossenen Betrachtung im Bild und zur Herstellung einer künstlichen Situation, in der es gleichzeitig als ausgeschlossene Größe bestimmt gemacht wird. Daumier macht sich so zu einem frühen Vorläufer visueller Kommunikation und propagiert eine Form der Selbstbildung durch Kunstwahrnehmung.
Das Publikum als Transformator
Die Kunstvermittler des 19. Jahrhunderts waren neben den KünstlerInnen vor allem KunstkritikerInnen, SchriftstellerInnen und gebildete Insider des Kunstbetriebs. Heute gehören VermittlerInnen zu den (mit-)entscheidenden Kommunikatoren der Kunstwelt, auch deswegen, weil die Grenzen zwischen Produktion und Rezeption immer fließender geworden sind. Noch nie zuvor in der Geschichte waren die Erwartungen und Ansprüche an eine gelingende Vermittlung, aber auch die Kritik an den Arbeitsweisen von Vermittlern so groß wie heute. KünstlerInnen reagieren auf diese Entwicklung mit partizipativen Projekten, die dem bildungsnahen Publikum – ähnlich wie in Daumiers Lithographie — die Bedingungen bewusst machen, in welchen speziellen Settings heute Kunst wahrgenommen und so die Bildung, das Selbstverständnis des Publikums durch die Begegnung mit (noch) fremden Kunstwelten aufgebaut, entwickelt und verändert wird.