Ein Ei ist ein Ei ist ein Ei
Heutzutage sind schon Wochen vor Ostern die Mengen an Eiern in unterschiedlichen Farben, Größen, Materialien und Konstellationen – ob zur Dekoration oder zum Verzehr – nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken.
Das Ei gilt unter anderem in der christlich geprägten Kultur als Symbol für Fruchtbarkeit, mit vielerlei Ausformungen in diversen Traditionen. Auch in der Kunst, zum Beispiel im Werk des Surrealisten René Magritte (1898-1967) oder des zeitgenössischen Künstlers Gavin Turk (*1967), ist das Ei ein wiederkehrendes Motiv und von besonderer Bedeutung. Magrittes Gemälde „La Clairvoyance“ (1936, dt.: Klarsicht / Hellsehen) diente Turk als Vorbild für seine Installation „Telesthesia“ (2015, dt.: Übersinnlichkeit), die derzeit in der Ausstellung „Risse in der Wirklichkeit“ zu sehen ist. Im Mittelpunkt dieses Werks steht das Ei: als reales Objekt, als illusionistisches Abbild und als Bedeutungsträger.
Realität, Abbild oder Bild?
Turk, in dessen Schaffen das Aneignen, Imitieren und Kopieren von bedeutenden Werken der Kunstgeschichte eine wesentliche Rolle spielt, überträgt Magrittes Werk in den Raum. Dessen Gemälde zeigt ein Selbstporträt des Malers, dem als Motiv ein einzelnes weißes Ei auf einem Tisch mit roter Decke dient. Aber statt des vielleicht zu erwartenden Eies lässt Magritte sein malendes Alter Ego einen Vogel mit ausgebreiteten Flügeln auf die sonst weiße Leinwand bringen. Dieses rätselhafte Spiel mit der (Abbildung von) Wirklichkeit entgegen der Sehgewohnheiten und Erwartungen ist charakteristisch für den Künstler. In seiner Auseinandersetzung mit einem Bildgegenstand wie dem Ei stellt er die sichtbare Realität in Frage – so wie die Surrealisten sich mit der Erweiterung des Bewusstseins ausgehend von Sigmund Freuds Psychoanalyse befassten, um eine eigene Wirklichkeit zu schaffen. Die Entwicklung des Eies zum Vogel scheint in dem detailliert dargestellten Tier vorweggenommen, wie in einem Blick in eine andere Zeitebene, – ein irritierendes Paradox, das eine geheimnisvolle, traumhafte Atmosphäre erzeugt.
Warum ein Ei?
Man kann sich fragen, warum Magritte ein Ei als Motiv wählte, das als Bildthema verhältnismäßig einfach erscheint. Neben dem Apfel beispielsweise kommt es in seinen Werken wiederholt vor, die beide immer auch philosophische Fragestellungen andeuten. So kann an dem Eimotiv zum einen das „Henne-Ei-Problem“ abgelesen werden, das in der bekannten Frage Ausdruck findet, wer von beiden zuerst da war. Als Metapher in der Philosophie, in der Logik, ist damit die Frage nach Ursache und Wirkung gemeint, beziehungsweise nach „dem Grund an sich“, dem Ursprung der Welt und des Lebens, verbunden mit den Schöpfungs- und Evolutionstheorien.
(Arche)typisch Ei!
Zum anderen ist das Ei ein Symbol gewordenes kulturelles Objekt und als archetypisches Urmotiv zu verstehen. Das war es in verschiedenen Völkern sogar schon sehr lange vor dem Christentum, zum Beispiel in Form von verzierten Eiern als Grabbeigaben. Sinnbildlich steht das Ei für das Entstehen und Hervorbringen neuen Lebens; in vielen Religionen und Mythen wurde es zum Symbol von Schöpfungsgeschichten und Teil von Fruchtbarkeits-, Initiations- oder, Ackerbauriten. In der christlichen Tradition symbolisiert das Ei die Auferstehung (von Jesus Christus) und fand schon vor Jahrhunderten Eingang in mannigfaltige Osterbräuche, wie zum Beispiel das Färben, Dekorieren, Schenken und Zubereiten von Eiern.
Ei im Bild, Ei als Bild, Bild aus Ei
Also zurück zu Turk: Der britische Künstler, in dessen vielschichtigem Werk besonderen Formen der Inszenierung und Illusion mit Bedeutungsebenen oft humorvoll-spielerisch verquickt sind, erweitert mit „Telesthesia“ Magrittes Komposition ins Dreidimensionale. Was für eine paradoxe Idee, ein Gemälde, das die Wirklichkeit wiedergibt und in dem es thematisch um das Abbild(en) von Realität geht, in den real existierenden Raum (zurück) zu übersetzen?! Mit ironischem Unterton fügt Turk verwirrende Veränderungen hinzu: Die sitzende Figur im Businessman-Anzug malt das echte Hühnerei (auf dem Holztisch) als Ei auf die Leinwand (statt als Vogel wie bei Magritte), auf rotem Hintergrund (wie das Rot der Tischdecke in Magrittes Bild). Turk verleiht dem Ei-Sujet Bedeutung auf mehreren Ebenen, denn diese Leinwand ist mit Eitempera bemalt, einer Form des Farbauftrags mit sehr langer Tradition in der Kunstgeschichte, in dem Ei als Bindemittel fungiert. Ein reales Ei, das mit Ei als Ei abgebildet wird: das Ei ist Bildthema, Material und Symbolträger zugleich.
Original und Fake
Wie das Ei ist übrigens auch der wie vergessen wirkende Apfelrest auf der Staffelei ein reales Objekt in der Installation, eine Hinterlassenschaft des Künstlers Turk wie ebenso der Malerfigur im Werkkontext. An dieser Stelle kann man als Ausstellungsbesucher eine reizvolle Verbindung zu Turks Skulptur „Given“ (2013) herstellen: Diese sieht nämlich auch aus wie der Rest eines Apfels, besteht aber nicht aus einem natürlichen Apfelstück, sondern ist ein bemalter Bronzeguss! Wie einige andere Skulpturen Turks – die Schlafsack, Toilettenrolle oder Einwegbecher darstellen – fasziniert diese bemalte Bronze gerade aufgrund ihrer wirklichkeitsgetreuen Gestaltung und Illusionskraft und nicht zuletzt wegen des Überraschungsmoments, wenn man als Betrachter beim ersten Hinsehen getäuscht wurde.
Bedeutungen ohne Ende
Turk versteht es, mit Werken wie „Telesthesia“ die Gültigkeit von Bedeutungen und Wertvorstellungen zu hinterfragen. Folgende Aspekte, die weitere Bezüge eröffnen, sollen hier nicht unterschlagen werden: Das Vogelmotiv, das in Magrittes Gemälde auf der Leinwand zu sehen ist, findet sich bei Turk etwas versteckt in der gemusterten Krawatte der Malerfigur wieder. Diese menschengroße Skulptur stellt außerdem kein Selbstbildnis (wie bei Magritte) dar, sondern Turk porträtiert hier den bekannten Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889 –1951). Während der wächserne, dunkelbraun bemalte Kopf die Materialität von Holz nur vortäuscht, erscheint der Körper als hölzerne Gliederpuppe, die in handlicherem Format von Künstlern als Modell für Körperdarstellungen verwendet wird. Entsprechend grob, als ovale Form und ohne einzeln herausgearbeitete Finger treten die Hände der Figur in Erscheinung, (denen man deswegen eigentlich nicht die Fertigkeit, ein Bild zu malen, zutrauen kann). Es werden Fragen aufgeworfen wie: Was ist Modell oder Original und was ist Darstellung, was ist Täuschung oder Kopie und was Realität? Mit der Figur dieses Gelehrten macht Turk außerdem Wittgensteins Philosophie der Logik, Sprache und des Bewusstseins zum Thema und damit die Vorstellung, Sprache als eine Art Abbildung von Wirklichkeit zu verstehen. Zuletzt sei ein Blick auf die Rückseite der Leinwand in der Installation geworfen: Nicht zu übersehen ist die Signatur Turks, die sich auf den Malgrund in der Inszenierung bezieht, aber auf anderer Ebene das Werk „Telesthesia“ als einzigartiges, wertiges Kunstwerk kennzeichnet, was Turks gewitztes Spiel mit Formen von Bezeichnungen und Signaturen aufzeigt.