Der unbarmherzige Beobachter
Gemeinhin gelten Beobachter als aufgeklärte und nicht selten neunmalkluge Zeitgenossen. Doch soll ein Beobachter erläutern, wie er sich selbst betrachtet, muss er erst einmal länger nachdenken.
Kultur ist reflektierte Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Nichts daran ist beliebig.
Indem der Beobachter gewöhnlich eine professionelle Distanz wahrt und praktiziert, scheint er zunächst (seiner eigenen) Nähe auszuweichen. Das „Beobachten der Beobachter“ gehört inzwischen zu einer Kernkompetenz des Lebens in der Gegenwart, das wie kein anderes Zeitalter ein instrumentelles Verhältnis zu sich entwickelt hat. Kreativ ist heute, wer so tut, als wäre er nur ein neutraler Beobachter, der scheinbar unbeteiligt seiner Gegenwart ins Auge schaut. Der tägliche Blick in die Sozialen Medien aber beweist, dass kein Beobachter heute mehr unschuldig bleiben kann.
Beobachter, Systeme und Beobachtungen
Seit Niklas Luhmann wissen nicht mehr nur ausgebildete Soziologen, dass es „Beobachter“ sind, die in Systemen als Beobachter leben – und, wenn sie Pech haben, aus diesen komplexen Echoräumen nicht mehr herausfinden. „Beobachter unter sich“ hieß dann auch folgerichtig ein Buch des Luhmann-Schülers Dirk Baecker. Der Beobachter gilt in diesem Kontext als doppeldeutige Figur: als Produzent und Konsument, als Entscheider und Unterscheider, als fiktive Größe und als fungierender Operator, als kreativer Kopf und als Instrument seiner eigenen Reproduktion. Zu den Leistungen des Beobachters gehört es, dass er sich sowohl zu Distanz gegenüber seiner Umwelt als Gegenüber, als Partner seiner eigene Nähe empfinden kann. Anders als der frühere Betrachter des 20. Jahrhunderts ist der Beobachter im 21. Jahrhundert eine historisch neuartige Figur. Der Betrachter galt als eine fiktive und vor allem werkbezogene Größe – der Beobachter gilt dagegen als eine real entscheidende Instanz, die historisch und gleichsam überhistorisch existierend, in Umgebungen lebt und arbeitet, aus denen auch Werke entstehen können, aber nicht müssen. Der Beobachter ist ein Emigrant unter den Lebenden. Da er keinen Halt in sich selbst findet, muss er die Unterscheidungen, aus und mit denen er in seinen Kontexten agiert, selbst formulieren. Im Grunde ist es eine Form von Barmherzigkeit, die den Beobachter immer wieder dazu animiert, sich selbst zu überraschen und aus diesen Formen neue Erkenntnisse des Selbstbezugs über Eigenes und Fremdes zu gewinnen.
Abstand schafft Beziehungen
Anders als neu. Der Beobachter registriert Unterschiede; dadurch gewinnt er Formeln als Form. Der Betrachter stiftet Beziehungen; der Beobachter fügt diese in einer Weise zueinander, indem er Abstand gewinnt. Neu heißt für den Beobachter anders als gewohnt zu sehen, aber nicht weniger überraschend Anderes zu erkennen. Schreiben heißt für den Beobachter Beziehungen, die man erkennen könnte, sichtbar zu machen. Dieser Mythos wirkt nach wie vor: Indem der Schreibende die Grenzen seines Schreibens zu überwinden versucht (und sich dabei nicht selten selbst vergisst), glaubt er an die Kraft des Kreativen. Das/der Kreative gehört zum Mantra des zeitgenössischen Kulturbetriebs. Und indem heute jede/r kreativ sein muss, versucht der Kreative selbst diese Maxime noch zu unterlaufen. Was in den wenigsten Fällen gelingt. Anders als der Kreative ist der Beobachter nicht kreativ, sondern zumindest aktiv. Er glaubt wie jeder Kreative an sich selbst, inszeniert sich aber nicht permanent selbst. Es gehört zum Wesen des Beobachters, dass er in dem was er beobachtet, einfach verschwindet, „in die Funktionale rutscht“ (Bert Brecht).
Die Inszenierung von Geschichten
Gäbe es den Beobachter nicht, müsste man ihn erfinden. Anders als man vermutet, besitzt der Beobachter ein Faible für Möglichkeiten, Anlässe und Optionen, in denen leichthin Behauptetes in möglicherweise Schwerwiegendes umgedeutet, verwandelt wird. Der Beobachter besitzt einen Sinn für Geschichten, die er sich selbst erzählt – auch um sich nicht selbst mit anderen Beobachtern zu verwechseln. Wäre der Beobachter sein eigener Erzähler, der Geschichte in Geschichten inszeniert, würde sie heißen: Eine Geschichte vom unbarmherzigen Beobachter.