Rätselhaft, wandelbar, poetisch: Albrecht Schäfers „Ocellus“
In der Ausstellung „Ausbruch aus der Fläche“: Auf dem Weg von einem der kleineren Galerieräume in den nächsten lenkt ein leises Rascheln meine Aufmerksamkeit auf etwas merkwürdig am Boden „Schwebendes“ links vor mir…
Ich nähere mich dem Gebilde aus feiner Malerfolie, die so wie eine herkömmliche Abdeckplane aussieht. Diese gerät allein schon durch vorbeigehende Personen direkt in eine leichte Bewegung, aber nicht nur das – das Objekt führt scheinbar auch ein Eigenleben. Denn innerhalb von ungefähr drei Minuten durchläuft es immer das gleiche „Verhaltensmuster“: Die matt transparente Folie bäumt sich allmählich auf, bildet eine kuppelartige Gestalt und macht für einen kurzen Moment sogar ihr Inneres – nämlich drei leuchtende Bauscheinwerfer – durch eine Öffnung der abhebenden Plane vorne sichtbar, um anschließend in sich zusammenzufallen und den Betonboden und die Strahler wieder fast unter sich zu bedecken.
Lebendigkeit durch physikalische Phänomene
Allerdings wird die Folie daran gehindert, sich auf dem Boden plan auszubreiten oder diesen mit ganzer Fläche zu berühren, da sie an einigen Stellen mit weißem Nähgarn an den oberen Museumswänden festgehalten wird. Dies bewirkt den eigenartigen Schwebezustand des Gefüges, bevor es sich langsam wieder erhebt. Dieser permanente wie auch ausgewogene Bewegungsmechanismus, der zum Beispiel an die Fortbewegung einer Qualle im Wasser erinnern mag, lässt mich eine Weile rätseln. Wie entsteht dieser Vorgang? Das Geheimnisvolle und Eigendynamische dieser aus offensichtlich einfachen Materialien bestehenden Skulptur von Albrecht Schäfer und ihre besondere poetische Anmutung nehmen mich gefangen. Schließlich ist diese gleichförmige Bewegungsfolge physikalisch so zu erklären: Die Baustrahler erhitzen nach und nach die Luft unter der Folie, so dass diese sie gemächlich nach oben steigen lässt, aber nur, bis ausreichend kalte Luft von den Seiten nachströmen kann und sie wieder zum Absinken bringt.
Eigenheiten von Alltagsmaterialien künstlerisch in Szene gesetzt
Indem der Künstler sein Werk mit dem lateinischen Wort für „Äuglein“ betitelt („Ocellus“), einem Begriff aus der Zoologie, stellt er zudem eine Beziehung zur Natur her. So sorgt nicht nur die atemähnliche Bewegung für die Wirkung von Lebendigkeit, sondern das Licht der Strahler könnte auch als eine Art Auge oder Pupille wahrgenommen werden und dem Objekt dadurch zudem etwas Tierisches verleihen. Wie bei dieser Skulptur, welche erst vor kurzem durch das Engagement des Museumsfreundeskreises Teil der Sammlung Marta geworden ist, vermag es der mit unterschiedlichen Medien arbeitende Albrecht Schäfer (der 1967 in Stuttgart geboren wurde und heute in Berlin lebt), überraschende Kombinationen von Alltagsmaterialien, -gegenständen oder -phänomenen zu entwickeln: Im Zusammenwirken ihrer physikalischen Eigenheiten (wie etwa Instabilität oder Wärmeentwicklung) erleben sie auf spielerische Weise und im Kontext der umgebenden Architektur eine poetische Verwandlung und geben Raum für allerlei Assoziationen.
Noch bis zum 3. Juni ist „Ocellus“ in der Ausstellung „Ausbruch aus der Fläche – Das Origami-Prinzip in der Kunst“ in den Gehry-Galerien vom Marta Herford zu sehen.